Umgang der Kirche mit dem Thema Naturalismus


Warum verträgt sich christlicher Glaube nicht mit einem ontologischen Naturalismus?


Wenn Christen an die Auferstehung von den Toten glauben – und das ist von Anfang an das Herzstück ihres Glaubens – dann glauben sie an etwas, das sich nicht innerhalb unseres Kosmos ereignet: die Wirklichkeit muss also weiter sein als das, was innerhalb der Grenzen dessen, was wir als Natur definieren, liegt. Die Auferstehung widerspricht allen irdischen Kenntnissen über Tod und Verwesung.

Wenn Christen die Hilfe des Heiligen Geistes erbitten, dann vertrauen sie darauf, dass Gott in Person des Heiligen Geistes in unserem Leben eine Wirkung entfaltet. Die Hoffnung, dass man vom Heiligen Geist in-spiriert wird, widerspricht dem Energieerhaltungssatz, nach dem nur das eine Wirkung entfalten kann, was bereits in dieser Welt als Energie vorhanden ist.

Wenn Christen beten, dann vertrauen sie darauf, dass diese Gebete sogar dann von Gott gehört werden, wenn sie stumm artikuliert werden. Dies widerspricht radikal der Vorstellung, dass Kommunikation nur möglich ist, wenn ein Hörer aus Fleisch und Blut auf einem ihm offen stehenden Informationskanal die jeweilige Botschaft eines Sprechers empfängt. Weder die bekannten Informationskanäle noch die irdischen Varianten von Hörern entsprechen der christlichen Vorstellung von dem Gebete hörenden Gott.

Dies sind nur drei besonders deutliche Widersprüche zwischen dem christlichen Glauben und einem naturalistischen Wirklichkeitsverständnis. Alle drei berühren nicht periphere Vorstellungen des Glaubens, sondern zentrale. Bei allen dreien werden nicht periphere Vorstellungen der Naturalisten ignoriert, sondern zentrale.

Natürlich hat es nicht an Versuchen gefehlt, die hier genannten und auch andere christliche Grundüberzeugungen so lange umzuinterpretieren, bis sie scheinbar zu naturalistischen Gedankengängen passen. Vor allem alle möglichen Spielarten des Pantheismus haben zu diesem Behuf Einfluss auf die christliche Theologie genommen. Es ist sehr lehrreich, sich solche Beispiele genauer anzusehen. Deshalb sollen im Materialienteil entsprechende Texte aufgenommen werden.



Ist der Vorwurf der Kirche gegenüber berechtigt, sie vernachlässige das Thema Naturalismus in der schulischen Bildungsarbeit?


Selbstverständlich kann und wird mancher engagierte Religionslehrer seinen Oberstufenschülern bestes Material zum Thema Naturalismus zusammenstellen. Im Grunde genommen wird er dazu sogar aufgefordert, denn die Lehrpläne enthalten mehr oder weniger alle das Thema Anthropologie, und da ist eine entsprechende Unterrichtseinheit angebracht. Die Frage ist jedoch: wo und wie werden Lehrer von ihrer Kirche und ihren Institutionen auf dieses Thema vorbereitet und wer, welcher christliche Verlag hat bisher entsprechende Materialien schulgerecht aufbereitet? Es ist sicher nicht so, dass man da völlig bei Null beginnen muss. Aber allein die beiden folgenden Beobachtungen zeigen, wie berechtigt der genannte Vorwurf ist:


1.belegt die Analyse etlicher Oberstufenbücher für den Religionsunterricht, dass die Auseinandersetzung mit dem Naturalismus, wenn überhaupt, dann nur auf äußerst niedrigem Niveau geführt wird. Man hält sich an ein paar naturalistische Clowns, um sich höchst effektvoll von ihnen abzusetzen – ignoriert dabei aber, dass eine ganze Phalanx von hochkarätigen Naturwissenschaftlern, darunter durchaus auch einige mit Nobelpreisen geadelte, diese Position inzwischen wie selbstverständlich einnimmt. Es mag ja manchen Pädagogen zufrieden stellen, wenn es ihm gelungen ist, die überdrehten Eskapaden eines Richard Dawkins auseinanderzunehmen. Wie aber steht es um solche seriösen Wissenschaftler, mit deren Namen sich einige der spektakulärsten wissenschaftlichen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts verbinden und die an prominenter Stelle keinen Zweifel daran gelassen haben, dass sie sich dem Lager der Naturalisten zurechnen? James Watson, Francis Crick, Eric Kandel  ... die Liste lässt sich problemlos verlängern.

2.Ein kleiner Test unter Abiturienten würde – das ist meine traurige Gewissheit – zutage fördern, dass die allermeisten von ihnen weder mit dem Begriff Ewigkeit noch mit dem Begriff Intentionalität oder gar extendiertes Zeitbewusstsein etwas anfangen könnten, vermutlich wüssten auch die wenigsten etwas von der Paradoxie der deterministischen Grundthese, dass der Mensch und alles, was er an Gedanken produziert, restlos determiniert ist.


Wenn manche Leser jetzt den roten Faden verloren haben, dann ist dies ein klares Indiz dafür, dass auch ihnen die entscheidenden Argumente gegen naturalistische Konzepte nicht geläufig sind. Ein Ergebnis mangelnder Bildungsarbeit – denn so schwer sind diese Themen nun auch wieder nicht zu vermitteln. Offensichtlich haben die in unserer Kirche für Bildung Verantwortlichen das Problem inzwischen schon über mehrere Generationen hinweg vernachlässigt und wollen dies auch nicht ändern. Spricht man die Verantwortlichen an, was ich zum Beispiel sehr geduldig mindestens zehn Jahre lang immer wieder und bei allen nur denkbaren Institutionen versucht habe, erhält man in aller Regel entweder überhaupt keine Antwort oder man wird auf unbestimmte Zeit vertröstet.

Einige wenige persönliche Erfahrungsberichte, die ahnen lassen, wie weit die Erosion christlicher Glaubensüberzeugungen vorangeschritten ist, können Sie nachlesen, wenn Sie die folgenden Links öffnen:

=> Auf dem Dresdner Kirchentag

=> Eine Umfrage




In welche geschichtliche deutsche Tradition ist die mangelnde Bereitschaft der evangelischen Kirche, das Thema energisch anzugehen, einzuordnen?


Zwischen Scylla und Charybdis

Als Luther vor 500 Jahren die Reformation auslöste, brachte er vornehmlich die Schrift in Stellung gegen eine kirchliche Hierarchie, die sich häufig sehr viel mehr für schöne Kirchenbauten, Politik  und Karriere interessierte als für die Verbreitung des Evangeliums. Der Bibeltext wurde zum stärksten Instrument des Protestantismus – selber einer der vier lutherischen Soli (sola scriptura, sola fide, sola gratia, solus Christus) wurde nur aus ihm die Berechtigung der anderen drei Soli abgeleitet, die dann zum Markenzeichen der Reformation wurden. Kein Wunder, dass diese Bibelorientierung bei einem Teil der Kirche zunehmend enger gefasst wurde: bald war es der Glaube an den Wortlaut der Schrift – ganz buchstäblich –, der zum Kriterium für Rechtgläubigkeit wurde. In dieser Tradition stehen die Kreationisten, weil sie nicht bereit sind, sich auch nur ein Jota von den Versen der heiligen Texte abmarkten zu lassen. Diese zunehmend engstirnige Fixierung löste geradezu unvermeidlich eine Gegenbewegung aus, nach der der Protestant sich dadurch auszeichnet, mit dem Wortlaut der biblischen Texte gleich ganz frei umgehen zu können und jedes Dogma einer persönlichen Interpretation unterziehen zu dürfen. Während also auf der einen Seite besondere Bibeltreue kennzeichnend für Teile des Protestantismus ist, gehen andere Teile besonders frei, bisweilen eben auch fahrlässig mit der Heiligen Schrift um. Da keine Glaubenskongregation den Streit um die Bibelauslegung schlichten kann, bleibt er unausgetragen. Man findet deshalb auf der einen Seite Christen, die nicht nur den Naturalismus, sondern eben auch viele seriöse Erkenntnisse der Wissenschaften ablehnen, auf der anderen Seite aber Theologen, die überhaupt keine Hemmung mehr haben, sich wissenschaftlichen Moden zu unterwerfen.


Akademische Arroganz

Nicht viel besser ist eine zweite protestantische Tradition, die sich am Streit zwischen dem Mystiker Jakob Böhme und dem Görlitzer Hauptpastor Gregor Richter schön nachvollziehen lässt: der sächsische Theologe setzte wie selbstverständlich voraus, dass ein universitär ausgebildeter Theologe einem Laien in Glaubensdingen überlegen ist – ganz egal, ob dieser Visionen hat und bereit ist, sein Leben ganz auf die Verbreitung seiner Glaubenseinsichten einzustellen. Die nicht nur glückliche Tradition, die sich hier zeigt, besteht im Glauben an die angebliche Überlegenheit des Theologen gegenüber dem Laien. Im 17. Jahrhundert hielten es etliche Pastoren für wichtiger, die Kanzel zu nützen, um theologische Streitfragen auszutragen, als sich etwa um seelsorgerische Belange ihrer Gemeinde zu kümmern. Diese Strömung ist in die Kirchengeschichte unter dem Namen Lutherische Orthodoxie eingegangen. Hermann Hesse schildert diesen bis heute ungelösten Konflikt, wie er ihn 200 Jahre später erlebte, in seinem autobiographischen Roman Unterm Rad. Da die Evangelische Kirche keine Autoritäten installiert hat, die Glaubenskontroversen schlichten könnte, keine Konzilien oder ähnliche Einrichtungen, entsteht diesbezüglich ein Vakuum, in das allemal Theologen hineinstoßen, um es auf ihre Weise zu schließen. Nun haben sich aber gerade die deutschen Theologen in großer Zahl allzu häufig eher als Aufklärer geriert. Nach dem Verdikt Heinrich Heines sind sie es, die hierzulande dem lieben Gott ein Ende machen – „on n’est jamais trahi que par les siens“. Von dieser Seite ist also keineswegs automatisch Hilfe zu erwarten. Ausnahmen wie Karl Barth, Gerhard Ebeling oder auch Eberhard Jüngel bestätigen eher die Regel – kein gutes Zeichen, dass sie heute im akademischen Betrieb eher gering geschätzt werden.


Kniefall vor weltlichen Autoritäten

Schließlich hat die evangelische Kirche es noch mit einer weiteren unseligen Tradition zu tun: Die Verlockung, sich in Glaubensdingen auf eine Autorität zu berufen, widerspricht nur vordergründig protestantischer Denkweise. Eher ist zu fragen, ob nicht gerade der Protestant, der die Autorität des Papstes mit guten Gründen zurückweist, sich schon zu Luthers Zeiten und bis heute deshalb umso sehnsüchtiger nach anderen Autoritäten umsieht – und die sind ganz schnell die des jeweiligen Zeitgeistes. Zeitgeist hieß vor 100 Jahren: nationalistisch zu denken und deshalb den Kulturprotestantismus zu fördern. Zeitgeist hieß vor und während der Nazidiktatur, der Christlichen Lehre eine rassistische Theologie unterzuschieben und damit dem Führer und seinen grausamen Plänen auch noch christliche Weihen zu geben. Distanz zum Zeitgeist ist also gerade in der protestantischen Kirche mehr als geboten.

Was heißt Zeitgeist heute? Ist die Kirche nicht auf dem besten Wege, die gebotene Distanz schmerzlich vermissen zu lassen? Müssen wir nicht mit großer Sorge konstatieren, dass kirchliche Autoritäten im wissenschaftlichen Zeitalter allzu oft schweigen, wenn die neuen ideologischen Herren unserer Zeit – und das sind allzu oft Naturwissenschaftler – naturalistische Vorstellungen vom Menschen, vom Geist, vom freien Willen, vom Leben propagieren, die der Kirche ganz unverkennbar das Fundament entziehen würden, wenn sie wahr wären?

Hat sich wirklich so viel geändert, seit Kirchenleute die Kanzeln für eine biologisch missleitete Politik missbrauchten? Zählt der Schulterschluss zwischen kirchlichen und wissenschaftlichen Eliten mehr als das Festhalten an Glaubenswahrheiten?


Fazit:

Kirche darf sich durch die Existenz von kreationistischen Kreisen nicht davon abhalten lassen, selber wissenschaftskritisch zu bleiben. Man gehört noch lange nicht zu den Guten, wenn man sich von bestimmten Irrtümern distanziert.

Kirche darf sich nicht von theologischen Moden und akademischen Autoritäten abhängig machen. Gerade weil der Universitätsbetrieb der Freiheit der Forschung verpflichtet sein muss, können akademische Autoritäten nicht die Richter in Glaubensfragen sein.

Kirche sollte tunlichst aufpassen, Distanz zum Zeitgeist zu wahren. Schon öfters hat sie sich diesem fataler Weise angedient, insbesondere auch, wenn er die Autorität fragwürdiger Wissenschaftler auf seiner Seite hatte. 


Was blockiert die Bearbeitung des Themas Naturalismus?


Zunächst: ein Trauma. Vor vier Jahrhunderten hat die Kirche fundamental versagt, als sie Galilei bei Androhung seines Todes zum Widerruf einer wissenschaftlichen Evidenz zwang. Der kurzfristige politische Sieg über die Naturwissenschaft wurde erkauft mit einem langfristigen Imageschaden: seit damals muss sich die Kirche gegen den Vorwurf wehren, wissenschaftsfeindlich zu sein. Diesen Eindruck will die Mehrheit aller Kirchenleute deshalb heute buchstäblich um alles in der Welt vermeiden. Dass sie dabei Konzessionen macht, die ihre eigene Glaubwürdigkeit längst radikal unterminieren, zeigt, dass der alte Brandherd nach wie vor schwelt.

Heute wird er vornehmlich in der Abgrenzung gegen jede Form von Kreationismus spürbar und hat damit zu einer kulturellen Spaltung der evangelischen Kirche, zur Entstehung sich wechselseitig ausgrenzender Milieus geführt. Beide Seiten neigen, über die Jahre hinweg äußerst empfindlich geworden, sehr schnell dazu, sich wechselseitig zu verteufeln. Jede wissenschaftskritische Äußerung eines Christen wird von den Gralshütern der wissenschaftsfreundlichen Bastion zuallererst daraufhin abgeklopft, ob sie vielleicht eine getarnte Stimme aus dem Lager der Kreationisten sein könnte. Falls sich ein Standpunkt als sperrig erweist, weil man ihn weder dem Lager der Wissenschaftsapologeten noch dem der Wissenschaftsignoranten zuordnen kann, entsteht Ratlosigkeit – und man lässt lieber die Finger von dieser Äußerung. Dies zumindest ist die Erfahrung, die ich selber schon mehrfach gemacht habe. Dabei lässt sich gar nicht vermeiden, dass der Christ sich von naturalistischen Positionen abgrenzt, wenn er sich weigert, Kernbestandteile des christliche Glaubens zu opfern (s. oben) – und das allein nährt bei den genannten Gralshütern bereits einen Anfangsverdacht auf „kreationistische“ Umtriebe. Der längst völlig aus dem Ruder gelaufene Kreuzzug gegen den Kreationismus hat inzwischen dazu geführt, dass etliche Redaktionen, Bildungseinrichtungen usw. sich immer ungenierter naturalistischen Positionen annähern, dass nur diese noch als seriös gelten. Der übergroßen Anzahl von angeblich aufklärerischen Vorträgen und Traktätchen über die verderblichen Machenschaften des Kreationismus – keine Studentengemeinde, die hier nicht schon aktiv geworden wäre – stehen häufig kläglich unbedarfte Verlautbarungen gegenüber, die sich vom Naturalismus absetzen. Das kann nicht gut gehen und ist sicherlich einer der Gründe, warum schlaue Jugendliche der Kirche immer distanzierter gegenüberstehen.


Um dem abzuhelfen, ist diese Seite ins Netz gestellt worden. Es geht gar nicht um die Gralshüter der Wissenschaft, die im Zweifelsfall eher Darwin als Christus verteidigen – es geht um die Jugendlichen, denen man naturalismuskritische Argumente vorenthält, die sie brauchen, um die Schwächen einer naturalistischen Position zu durchschauen. Dies führt keineswegs automatisch zurück in den Schoß der Kirche, aber es räumt den Kopf frei für Glaubenswahrheiten