Physiologische Ursachen für die

Verzögerung und Quantelung der Reizverarbeitung


Die objektive Zeit wird in der Nachfolge Newtons gemeinhin als Kontinuum angesehen. Dieses Charakteristikum scheint bei der Wahrnehmung jedoch verloren zu gehen. Wenn man ein Ereignis durch eine technische Einrichtung überwachen will (z.B. durch eine Film- oder Videokamera) und die entsprechenden Informationen an eine andere Stelle weiterleitet, dann kostet das Zeit. Außerdem hängt es von der Qualität der Kamera ab, wie stark das Kontinuum des überwachten Ereignisses in eine Folge von starren Momentaufnahmen verwandelt wird. Was also ein Beobachter in einer fernen Zentrale auf dem Bildschirm zu Gesicht bekommt, ist kein Kontinuum mehr und gegenüber dem ursprünglichen Ereignis zeitversetzt. Normalerweise macht dies wenig aus, aber wenn die betreffende Kamera an einer Raumstation befestigt ist und die Zentrale die der NASA in Houston in Texas ist, dann wird die Zeitdifferenz schon sehr spürbar sein und man muss die Zahl der Bilder pro Sekunde vielleicht auch aus Gründen der Übertragungskapazität reduzieren.


Im Prinzip verhält es sich nicht anders, wenn der Mensch Sinneseindrücke verarbeitet. Auch in seinem Gehirn laufen Prozesse ab, die Zeit brauchen. Und seine Sinnesorgane (wie die weiterleitenden Nervenbahnen) machen aus dem Kontinuum z. B. eines Tonereignisses eine Serie von Intervallen.


Es gibt also einen physiologischen Grund dafür, dass die Reizverarbeitung gestaffelt erfolgt. Zunächst registriert das Gehirn, dass ein Ton vorhanden ist. Dann kann es ihn gegenüber anderen (z.B. einem zweiten) identifizieren. Daraufhin erst kann es entscheiden, welcher der beiden Töne zuerst und welcher als zweiter eintraf. Noch länger benötigt es, um auf diesen Reiz in irgendeiner Weise zu reagieren.


Diese Verzögerung und Quantelung, die während der Reizverarbeitung auftritt, lässt sich auch wie folgt systematisieren: sie hat mechanische, chemische und elektrische Ursachen:

Schon die Bauteile des Innenohrs, wo die Schallwellen in elektrische Impulse umgewandelt werden, gehorchen, so fein sie auch sein mögen, den Gesetzen der Trägheit. Auch wenn die beteiligten Membranen, Flüssigkeiten, feinen Härchen aufgrund ihres geringen Volumens überaus schnell reagieren können – wenn die Frage steht, ob ein Zeitereignis verzögert oder gequantelt wird oder tatsächlich zeitgleich und kontinuierlich erfasst wird, spielen natürlich auch kürzeste Sekundenbruchteile eine Rolle. Vor allem die minimale Blockierung eines Schwingungsprozesses durch parallel laufende oder noch nicht beendete andere Schwingungsprozesse der beteiligten Gewebeeinheiten muss zwangsläufig das Kontinuum der Übertragung stören – was zu einer minimal verzögerten Weitergabe und damit zu einer Quantelung des Tonereignisses führt.

Dann gibt es die chemischen Prozesse, die bei der Reizweiterleitung z.B. an jeder Synapse auftreten. Auch sie benötigen Zeit, denn keine chemische Reaktion, und sei sie auch noch so aggressiv, entgeht der verfließenden Zeit.

Schließlich durchzucken die Nervenzellen elektrische Impulse. Dies ist jedoch ein euphemistischer Ausdruck. In Wahrheit sind an diesem Zucken unzählige Ionen beteiligt, die auch noch Positionsveränderungen vornehmen müssen – indem sie durch Ionenkanäle in der Zellwand heraus oder hineinströmen. Dieser elektrische Strom hat deshalb eine durchaus relevante Fließgeschwindigkeit, die sogar deutlich höher liegt als beispielsweise die in Kupferkabeln.

Wo materielle Systeme arbeiten – und natürlich ist das Gehirn ein solches –, vergröbert sich jeder übertragene Informationszusammenhang und wird dabei notgedrungen auch zeitlich zerhackt. Dieses Zerhacken ist ein defizitärer Prozess, kein konstruktiver. Er ist ein notwendiges Tribut, das der Materie geschuldet wird.


Es wäre also nicht erstaunlich, wenn unser Bewusstsein den Ereignissen hinterherhinkte. Ob es damit allerdings in seiner Entstehung besser begriffen würde, steht dahin. Pöppel lehnt sich sehr weit aus dem Fenster, wenn er schreibt:


Wenn wir nur zu bestimmten Zeiten reagieren oder handeln können, dann ist Kontinuität der Zeit wohl eine Illusion. Zwar entzieht sich die Diskontinuität des Identifizierens und des Entscheidens unserem Bewußtsein, aber die experimentellen Hinweise sind eindeutig, daß wir – bei einer Periode der Gehirnoszillation von 0,03 bis 0,04 Sekunden – in einer Sekunde nur etwa 30 Identifikationsmöglichkeiten und Entscheidungspunkte haben. (…) Wir können (…) annehmen, daß die subjektive Zeit diskontinuierlich abläuft, daß der Ablauf unseres Erlebens und Verhaltens zerhackt ist in Zeitquanten. Wir können nicht ‚immer’ reagieren. Die Funktionsweise unseres Gehirns definiert formale Randbedingungen für den zeitlichen Ablauf, die uns aufgezwungen sind. Wir sind vielleicht frei über das, was wir entscheiden, aber nicht wann wir entscheiden.

(Ernst Pöppel, Grenzen des Bewusstseins, überarbeitete Neuausgabe Frankfurt/Main - Leipzig 1997, S. 49)


Pöppel identifiziert terminologisch unsauber die Quantelung der Reizverarbeitung und des Reagierens mit einer Quantelung der subjektiven Zeit. Deren Kontinuität hält er für eine Illusion. Das ist an und für sich erstaunlich, denn er betont ja selber ausdrücklich, dass das Bewusstsein gar nicht mitbekommt, dass die in ihm auftauchenden Erlebnisse zerhackt sind. Was stellt also seine Kontinuität in Frage? Leider kann unsere subjektive Zeit nicht isoliert gemessen werden – das ist das Handikap. Das Bewusstsein ist immer intentional, deshalb beziehen sich Messungen immer auf Inhalte, die in unserem Bewusstsein auftauchen.


Es gibt allerdings subjektive Berichte, die nahe legen, dass das Bewusstsein gegenüber den Wahrnehmungen eine gewisse Autonomie besitzt. Oliver Sacks referiert in einem Aufsatz über Neurologische Anomalien, Bewegung, Denken und Zeit eine Studie zweier amerikanischer Wissenschaftler, Russell Noyes und Roy Kletti von der Universität Iowa, die 200 Berichte von Menschen sammelten und auswerteten, die sich dem Tode gegenüber sahen. Sacks fasst zusammen:


Die Mehrheit der Befragten sprach von einer Beschleunigung des Denkens und einer scheinbaren Verlangsamung der Zeit während ihrer – wie sie glaubten – letzten Lebensmomente. (...)

Ein anderer Fahrer, der, nachdem er mit vollem Tempo eine Anhöhe hinaufgefahren war, in dreißig Metern Entfernung einen Zug auf sich zukommen sah und im ersten Moment glaubte, von ihm überfahren zu werden, bemerkte: „Als der Zug vorbeifuhr, sah ich das Gesicht des Lokführers. Es war, wie wenn ein Film langsam abgespielt wird, so daß die Bilder ruckeln. So sah ich sein Gesicht.“

(Oliver Sacks, Gehirntempo. Neurologische Anomalien, Bewegung, Denken und Zeit. In: Lettre International 2/2005 S. 74)


Die geschilderte Szene zeigt zweierlei. Erstens müsste der Bewusstseins-„Takt“ – sofern es tatsächlich ein Takt ist, was ja gerade strittig ist – sehr viel schneller schlagen als der Takt, mit dem das Hirn Einzelbilder/Wahrnemungstableaus konstruiert. Zweitens kann das Bewusstsein diesen Einzelbildern sowieso nicht eins zu eins zugeordnet werden, auch nicht der Abfolge solcher Bilder. Denn dann könnte in ihm immer nur eines dieser Tableaus aufscheinen. Das Bewusstsein registriert aber offensichtlich, dass sie einander folgen, es registriert die Sprünge zwischen ihnen – und steht ihnen damit geradezu homunculusartig gegenüber.  Ist der Bericht einerseits gut geeignet, um die Zerstückelung der Wahrnehmung zu demonstrieren, zeigt er andererseits, dass das Bewusstsein selber, weil es ja nicht nur die aktuellen Bilder, sondern auch deren „Ruckeln“ registriert, demgegenüber Kontinuität, Überblick, Autonomie wahrt. Gerade der geschilderte Fall legt eher nahe, dass der gequantelten Reizverarbeitung keine in Quanten zerlegte subjektive Zeit gegenübersteht. Das Gefühl, in lebensgefährlichen Momenten mehr Zeit zu haben, unterstreicht dies sogar noch: wenn Zeit sehr kostbar wird, in existentiellen Momenten, nehmen wir uns mehr Zeit – oder bekommen mehr Zeit zugeteilt, von was oder wem auch immer.


Um es noch einmal in Husserls Terminologie zu sagen: Bewusstsein ist wesentlich intentional. Immer verbindet es sich uns mit seinen in ihm auftauchenden Inhalten. Aber es ist mit ihnen dennoch nicht identisch, sonst wäre dieser Aussage ihr Reiz genommen. Intentionalität bedeutet nicht, dass die Quantelung von Erlebnisinhalten Rückschlüsse auf die Quantelung des Zeitbewusstseins zulässt. Das Zeitbewusstsein selber scheint gerade nicht gequantelt zu sein – oder auf viel feinere Weise. Es registriert, gerade in Fällen wie den von Sacks geschilderten, die Quantelung der Erlebnisinhalte! Und das kann es nur, weil es mit ihnen nicht identisch ist.


Mag also der Fluss der Reize infolge der Verarbeitungsweise gequantelt sein – was das über die subjektive Zeit sagt, wird nicht greifbar. Noch viel weniger verstehen wir nach dem bisher Gesagten, warum wir ein vergleichsweise langes Intervall von drei Sekunden als Gegenwart empfinden.


Fjodor Dostojewski, der bei epileptischen Anfällen ebenfalls das Phänomen der Zeitdehnung kennen lernte, maß ihnen metaphysische Bedeutsamkeit bei:


Es gibt Sekunden, es sind im ganzen nur fünf oder sechs auf einmal, und plötzlich fühlt man die Gegenwart der ewigen Harmonie. ... Das Furchtbarste ist, daß es so schrecklich klar ist und eine solche Freude.

(Sachs, a.a.O., S.76)


Auszug aus Stein und Zeit © beim Verlag