Gottfried Böhme: „Stein und Zeit“
Rezension
Der Leser des Buches „Stein und Zeit“ von Gottfried Böhme sollte die Neugierde und das Problembewusstsein für zentrale christlich-religiöse und philosophische Fragen mitbringen, zwischen denen der Autor einen weiten Bogen aufspannt: es geht um nicht weniger als Gott, Zeit und Bewusstsein.
Der erste Teil des Buches ist von Böhmes Sorge motiviert, dass aktuell das theologische Gerüst der kirchlichen Schulbildung wankt: er ist Lehrer an einem christlichen Gymnasium und moniert, dass im Religionsunterricht die Kerngedanken christlicher Überzeugungen wie alte Felle davon schwimmen. Nicht zufällig heißt ein Kapitel seines Buches, in dem er sich dieser Kerngedanken vergewissern will, „Der kleinste Katechismus“. Sicher, Böhme ist auf seine Weise ein Radikaler. Jemand, der Bekenntnisse fordert und mit seinen Texten fördert; für den es nicht schambesetzt ist, als erwachsener Mann (Böhme ist Jahrgang 1951) in einer Umgebung, deren Weltverständnis naturwissenschaftlich durchtränkt ist, an die Auferstehung der Toten und einen persönlichen Gott zu glauben. Böhme konstatiert, dass sich allzu oft religiöse Begriffslogik und Gottesverständnis dem Zeitgeist angepasst haben. Er wettert, er schimpft, er poltert und pocht an die Türen derjenigen, die die christliche Botschaft verdünnen – die sich vor dem digital-naturwissenschaftlichen Zeitgeist weckducken beziehungsweise christlichen Glauben hoch bemüht, doch leider vergeblich mittels verbaler Konstrukte, die nicht belastbar sind, mit den Naturwissenschaften zu verbinden suchen.
Unterfüttert wird dies nicht nur durch manche Erfahrung – wie etwa einen höchst ironischen Bericht vom Dresdner Kirchentag, bei dem in einem Forum Referenten und Kirchentagsbesucher sich wechselseitig die Antiquiertheit des Apostolicums bestätigten – sondern auch durch eine Rezension eines Oberstufenreligionsbuches, in dem der Glaube auf dem Altar oberflächlicher Modernität geopfert wird. Böhme sieht das begriffliche Fundament des christlichen Glaubens dahinschwinden, weil die fundamentalen Glaubenssätze innerhalb der christlichen Gemeinden, noch schlimmer: immer öfters auch von bekannten Galionsfiguren der Kirchen gar nicht mehr zur Sprache gebracht werden. Ihm geht es gerade um die Begriffe des Glaubens, nicht um die diakonischen Werke, die allerorten Christen im Namen ihres Gottes vollbringen mögen. Theologischer Ballast, werden die einen sagen – die anderen werden darüber nachdenken, wie weit sich die Sprache des christlichen Glaubens den weltlichen Gepflogenheiten noch andienen soll. Böhmes Texten ist zu entnehmen, dass der in seiner Jugend aus der Kirche ausgetretene Protestant viele Jahre mit einem neuen und ehrlichen Zugang zur christlichen Botschaft gerungen hat. Insofern sind die Fragen, die sich Böhme im ersten Teil seines Buches stellt, Fragen, die an die religiöse Substanz gehen: Kann man an Auferstehung in der heutigen Zeit überhaupt noch glauben oder läuft man damit Gefahr, als Patient behandelt zu werden? Warum ist Glauben in den Augen der anderen oft eine bemitleidenswerte Eigenschaft und sein Bekenntnis nicht einmal unter den Getauften eine Selbstverständlichkeit? Denn Böhme geht es weniger um diejenigen, die zum christlichen Glauben längst keinen Zugang mehr haben oder noch nie hatten, sondern mehr um diese Getauften, die das Verständnis für die Grundsätze ihres Glaubens verloren haben.
Sein Schreibweg ist dabei manchmal polemisch, aber allemal akademisch untermauert und führt durch eine reichhaltige Landschaft theologischer und naturwissenschaftlicher Literatur. Man merkt es diesem Werk an, dass es in zehnjähriger und geduldiger Arbeit – vor allem wohl im Austausch mit den Schülern seiner Oberstufenkurse – gereift ist. Seine Texte bieten dabei keine Welterklärung, vielmehr ist Kritik für Böhme ganz im sokratischen Sinne das Mittel der Wahl gegen die Kriechöle der unterschiedlichsten Reduktionismen.
Und Kritik übt Böhme auch im zweiten, gewichtigeren Teil seines Werkes, wenn er sich auf populärwissenschaftlicher Ebene, nichtsdestotrotz tiefgründig mit den reduktionistischen Perspektiven der modernen Naturwissenschaften hinsichtlich der Phänomene Zeit und Bewusstsein beschäftigt. Bemerkenswert an diesem Buch ist, dass hier nicht ein Autor seinen Frust an der Kirche ablädt und andere dazu auffordert, doch jetzt gefälligst seine programmatischen Ideen auszugestalten – er tut dies exemplarisch an einem zentralen theologischen Begriffspaar selber: dem von Zeit und Ewigkeit – und, wie sich herausstellt, damit auch dem von Geist und Bewusstsein.
Diese Themen könnten akademischer nicht sein und die geneigte Leserschaft sollte sich auf komplexe philosophische Exkurse gefasst machen. So etwas ist nicht jedermanns Sache – aber der Methodik von Böhme ist es zu verdanken, dass man auch den komplizierten Aspekten aufgrund guter argumentativer Grundlage und eines geschliffenen Stils bestens folgen kann. Böhme, der Anfang der 70-iger Jahre in Tübingen Philosophie studierte, versteht sein Handwerk. Er setzt sich mit aktuellen philosophischen und naturwissenschaftlichen – insbesondere mit neurobiologischen Modellen der Zeit und des Bewusstseins auseinander. Zurecht kritisiert er beispielsweise, dass der phänomenologische Ansatz von Husserl in der naturwissenschaftlich geprägten Zeit- und Bewusstseinsdebatte fast vollständig ignoriert wird, oder – was symptomatisch ist – die Zeitphilosophie Heideggers schon mal zur Mehrung des Ruhms eines Fachmanns (es handelt sich um den bekannten Hirnforscher Ernst Pöppel) von diesem regelrecht auf den Kopf gestellt wurde. Böhme legt schlüssig dar, dass Bewusstsein nicht der linearen Zeitlogik einer Newtonschen Physik gehorchen kann und besonders auch deshalb dieses Phänomen nicht in zeitlich aufeinanderfolgende neurobiologische Subprozesse zerlegt oder in diesen gefunden werden kann – ein klares Argument gegen den philosophischen Naturalismus.
Fachvertreter würden vielleicht schnauben, wenn sie diesen Zeigefinger des Lehrers Böhme zur Kenntnis nähmen: ob der gediegenen Frechheit seiner ungefragten Einmischung. Aber warum nicht?! Als Lehrer noch nicht als faule Säcke galten, war es gar nicht so selten, dass der eine oder andere von ihnen sich auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung einen Namen machte. Nicht nur Lehrstuhlinhaber oder solche, die es noch werden wollen, haben die Freiheit, sich um den philosophischen und biologischen Urgrund von Zeit und Bewusstsein zu bemühen. Böhme macht es auf seine Weise; kritisch, fundiert und noch dazu verständlich, so daß man auch aus dem Textweg des zweiten Buchteils bereichert und vielleicht sogar inspiriert zu eigenen Gedanken (und Experimenten) hervorgeht.
Leipzig, Oktober 2012, Dr. Martin Grunwald
Bibliographische Angaben:
Gottfried Böhme: Stein und Zeit
Mit einem Nachwort von Vater Lazarus
Verlag des heiligen Dreifaltigkeitsklosters Buchhagen
Erscheinungsjahr 2012
424 Seiten, einige Abbildungen
Preis: 18.-- Euro
ISBN: 978 – 3 – 926236 – 10 – 4