Endlich raus aus Newtons Kiste!

Gottfried Böhme


Der folgende Aufsatz konzentriert sich auf drei Themen, die stark miteinander verwoben sind, enthält also eigentlich drei Aufsätze. Erst geht es um die neuzeitliche Wendung gegen das Sein und die klare Bevorzugung des Werdens beim Begreifen der Wirklichkeit. Der Prozess wird zum alles beherrschenden Paradigma. Das bringt allerdings Ungereimtheiten mit sich, so dass diese philosophische Vereinseitigung letztlich nicht richtig überzeugt.

Das Thema „Dimensionen“ beherrscht den zweiten Aufsatz. Ein ursprünglich den Mathematikern vorenthaltener Begriff wird auf seine Tauglichkeit hin untersucht, auf unsere Wirklichkeit angewendet zu werden. Brisant ist insbesondere die Frage, ob es neben der linearen Zeit eine zweite Zeitdimension geben könnte und wie diese ggf. in Erscheinung treten könnte.

Im dritten und vierten Teil werden einschneidende Folgen aus der Vorstellung einer zweiten Zeitdimension diskutiert. Mit einer zweiten Zeitdimension verliert die neuzeitliche Konzentration auf die aristotelische causa efficiens ihre Vormachtstellung. Auch unsere Vorstellung von Geist und Bewusstsein würde stark verändert, wenn die Idee einer zweiten Zeitdimension sich durchsetzen könnte.

Der Aufsatz schließt mit Überlegungen, welche Auswirkungen diese Ontologie auf so große Themen wie Freiheit und Glauben, insbesondere den Ewigkeitsbegriff haben könnte.



Teil I: Sein und/contra Werden


Einer Untersuchung zum Menschheits-Thema Sein und Werden stünde es gut an, wenn er bis zu den Griechen ausholte und beispielsweise an Heraklits Fluss, in den man nicht zweimal steigt, erinnerte. Auch die Kontroverse zwischen Platons ewigen, seinsmäßigen Ideen und Aristoteles’ Vorliebe für die Veränderung bzw. das Werden der Dinge wäre es wert, philologisch sauber analysiert und vergegenwärtigt zu werden, was in der Philosophiegeschichte schon vielfach geleistet wurde. Ich nehme das Thema aber lieber so, wie es sich uns heute keineswegs nur in populärwissenschaftlichen Verlautbarungen präsentiert: Das aufgeklärte Europa scheint sich nämlich längst festgelegt zu haben, welcher der beiden Auslegungen der Wirklichkeit der Vorzug zu geben ist – gesiegt hat das Werden.

Naturwissenschaftler interessieren sich seit Anbruch der Neuzeit zunehmend und inzwischen nahezu ausschließlich für die Entstehung und Entwicklung der wesentlichen Phänomene unserer Wirklichkeit. Überall, selbst bei Theologen, die sich philosophischen Fragen widmen, drängt sich die Frage  auf: wie ist Geist entstanden, wie entsteht Bewusstsein, wie konnte sich das Leben auf unserem Planeten entwickeln, was sind die Wirkkräfte, auf die sich eine sogenannte Willensentscheidung zurückführen lässt, auf welchem Wege kommt das Böse in die Welt, wie läuft die Schöpfungsgeschichte oder gar der Schöpfungsvorgang ab. Immer wird unterstellt, dass ein Phänomen letztlich als Ergebnis eines Prozesses ans Licht tritt. Bezüglich aller hier genannten Phänomene gilt sogar: der Wissenschaftler glaubt, das Phänomen hinreichend erklärt zu haben, wenn er seine Entstehung aus Vorstadien und Einflussfaktoren ermittelt hat. Er unterstellt, dass all diese gern als „komplex“ bezeichneten Erscheinungen unserer Wirklichkeit in einem Prozess entstanden sind, bei dem jeweils bestimmte Ursachen fein säuberlich bestimmte Wirkungen generiert haben und der in dem besagten Endphänomen gipfelte. Dies soll so sein bei unserem Körper und den heute die Erde besiedelnden biologischen Arten, beim Bewusstsein und den Willensentscheidungen, nach Ansicht mancher sogar beim künstlerischen Schaffen, Lieben und Glauben.

In diesem Aufsatz soll auf die Probleme hingewiesen werden, die diese Auffassung unweigerlich mit sich bringt.


Das Sein als Quelle des Lebens

Europa kannte einst eine andere Antwort auf die Frage, wie diese Ur-Phänomene in die Welt kommen. Nach dieser zweiten Tradition, die im Laufe der Neuzeit allerdings immer stärker in den Hintergrund getreten und vielen deshalb gar nicht mehr bekannt ist, vielleicht sogar als absurd erscheinen würde, werden bzw. wurden Leben, Freiheit und alle möglichen Ausprägungen des Geistes als in diese Welt eingesetzte Phänomene gedeutet. Geist oder Leben etc. sind nach dieser Tradition Phänomene, die keineswegs prozesshaft aus dieser Welt herauswachsen, sondern von was auch immer in sie eingetragen wurden bzw. immer noch werden. Der philosophische Idealist wird dafür vielleicht ein Reich der Ideen und Formen verantwortlich machen, der Fromme wird sagen: es ist Gottes Geist und Wort – er ist es, der den Dingen den Lebensatem einhaucht und das Fünklein Vernunft in uns entzündet. Und nach Luther sind es Gott oder der Teufel, die uns als Reittier gebrauchen, das nicht seinem eigenen Willen folgt, sondern allemal dem seines Reiters. In früheren Zeiten war meist kein Werden, sondern ein transzendentes Sein der letzte Grund unserer Wirklichkeit mit all ihren Facetten. So also die Tradition.

Aber diese Überzeugung, dieser Glaube scheint solchen Phänomenen nach einer modernen Lesart gerade ihren Reiz zu nehmen: sie wirken so aus einem fernen Sein importiert wie ausgesogen, ihrer Lebendigkeit beraubt. Unabhängig, lebendig und frei kann nur das sein, was nicht schon von vornherein von einer höheren ontologischen Instanz vorgeformt, geprägt oder initiiert ist, das sich von solcher Herkunft mindestens emanzipiert hat. Sonst ist die Freiheit eine peinliche Illusion; und lebendig wirkt auf uns nur das, was sich nicht exklusiv einem Räderwerk der verschiedensten Anstöße verdankt. Quicklebendig gar sind nur solche jungen Dinger, deren Reaktion auf die Situationen des Alltags völlig unabsehbar ist. Wenn also alles auf solche tiefste „Quelle“ des Seins zurückzuführen ist, erlischt das Leben, triumphiert die Unfreiheit und der Geist wird zu einer Karikatur von dem, was er gemeinhin für sich ausgibt. Wer transzendentes Sein wirklich radikal als Quelle aller Prozesse versteht, der vernichtet all das, was unserem Leben seine Würde gibt, was es tief, rätselhaft und faszinierend macht: Alles ist schon von jeher beschlossene Sache, die Wirklichkeit ein abgekartetes Spiel! Dies die Denkweise des neuzeitlich geprägten Menschen.

Die Wertschätzung irdischer Lebendigkeit führt umgekehrt zu einer Neubewertung der Quelle des Seins selber, also Gottes, und zu einer kritischen Sicht auf die ihm zugesprochenen Attribute, insbesondere der Ewigkeit. Wenn der aristotelische Gott unbewegter Beweger ist, wenn seine eigene Bewegungslosigkeit nie vergeht, dann fehlt ihm selber die Lebendigkeit, deren letzte Ursache er doch sein soll. Dann verschwindet der Reiz, diesem starren Etwas nach unserem Tod zu begegnen. Und in der Kirchengeschichte drängte sich dieser aristotelische Gott zeitweilig sehr in den Vordergrund. Dieses Gottesbild verträgt sich nicht mit der Vorstellung eines lebendigen Gottes, von dem Altes wie Neues Testament berichten und der von den Urvätern der christlichen Kirche angebetet wurde.

Die verheerende Konsequenzen eines erstarrten Gottesbildes für den dann ebenfalls einfrierenden Ewigkeitsbegriff hat in seltener Schärfe Immanuel Kant in seiner kleinen postkritischen Schrift Vom Ende aller Dinge herausgearbeitet – freilich ohne Hoffnung auf eine Lösung des Dilemmas. Kant schreibt 1794 über die Frage, was es bedeutet, dass der Mensch „aus der Zeit in die Ewigkeit“ geht: „Daß aber einmal ein Zeitpunkt eintreten wird, da alle Verändrung (und mit ihr die Zeit selbst) aufhört, ist eine die Einbildungskraft empörende Vorstellung. Alsdann wird nämlich die ganze Natur starr und gleichsam versteinert: der letzte Gedanke, das letzte Gefühl bleiben alsdann in dem denkenden Subject stehend und ohne Wechsel immer dieselben. Für ein Wesen, welches sich seines Daseins und der Größe desselben (als Dauer) nur in der Zeit bewußt werden kann, muß ein solches Leben, wenn es anders Leben heißen mag, der Vernichtung gleich scheinen: weil es, um sich in einen solchen Zustand hineinzudenken, doch überhaupt etwas denken muß, Denken aber ein Reflectiren enthält, welches selbst nur in der Zeit geschehen kann.“

Wenn Kant sich vor einer Ewigkeit graust, in der die Zeit, damit das Verfließen der Sekunden, Minuten, Stunden endet, dann begründet er dies damit, dass in solcher Ewigkeit ja nicht einmal mehr reflektiert werden kann, denn dies setzt ein Verfließen der Zeit voraus. Was könnte für einen aufgeklärten Denker wie Kant schrecklicher sein, als ein Zustand, in dem das Denken erstirbt?


Die Wirklichkeit muss also im Fluss gehalten werden, und das ist von Augustinus bis Kant das irdische Merkmal der Zeit. Während Augustinus seinerzeit beklagt, dass die verfließenden Zeiten für uns Menschen alles Irdische zerreißen, weshalb der Christ auf ein Jenseits hofft, indem all dies wieder zusammenfindet, was von uns durch Tod oder Unglück getrennt wurde, ist es gerade dieses Fließen, das für Kant die Grundvoraussetzung für alles Erleben ist und Lebendigkeit einzig garantiert. Dies berücksichtigend wenden sich viele Intellektuelle des 19. Jahrhunderts so entschlossen wie pathetisch dem Diesseits zu, in dem alles noch offen und lebendig ist oder zumindest sein kann.

Besonders eindrucksvoll hat dies Thema Gottfried Keller in seiner ergreifenden Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe gestaltet. Bei Keller ist es die Endlichkeit unseres Lebens, die das Lebendige erst so richtig kostbar macht – viel kostbarer, als ein in alle Ewigkeit perpetuiertes, sich dann doch irgendwann wiederholendes Leben. Die beiden Liebenden, die wissen, dass ihnen in der bürgerlich-spießigen, von Standesdünkel geprägten Welt keine Zukunft offen steht, intensivieren gerade deshalb ihr allzu kurzes Glück in der letzten und einzigen Liebesnacht, die ihnen bleibt. Man versteht, warum mancher Europäer von dieser Schilderung irdischer Glückseligkeit mehr hielt als von einer geistig defizitären Ewigkeit, der Kant keinen Reiz mehr abgewinnen konnte.  

Und Naturwissenschaftler assistierten nur zu gern: ohne die Unwägbarkeiten der Chaostheorie, ohne dissipative Strukturen, ohne die Uneindeutigkeit quantenphysikalischer Prozesse – allgemein gesagt: ohne das Offene am Prozess erweisen sich die aufregendsten und besonders geschätzten Phänomene des Wirklichen als Illusionen. Die Unberechenbarkeit, die Unabwägbarkeit aller offenen Prozesse scheint das Lebendige, den Geist, die Freiheit vor dem alles einfrierenden Sein zu retten. Nur wenn in unserer Wirklichkeit nicht schon subkutan fixiert ist, wie die Prozesse ausgehen, behalten die genannten Phänomene ihre Würde.

Dies greifen schließlich sogar manche Theologen auf. Vor allem im angelsächsischen Raum entsteht eine Prozesstheologie, die das Werden Gottes für sein entscheidendes Merkmal hält – so etwa bei John Cobb, dem bekanntesten Kopf dieser theologischen Strömung. Aber auch Katholiken wie George Coyne, bis 2006 der Leiter der vatikanischen Sternwarte, opfert die im Sein verwurzelte Ewigkeit Gottes bereitwillig auf, um dem aus seiner Sicht erstarrten Gott wieder Leben einzuhauchen. Jetzt wird Schöpfung zu einem offenen Prozess,  dessen Ergebnis niemand kennt, niemand kennen kann  – auch Gott nicht, wie Coyne nicht müde wird zu betonen. Freilich ist diese Schöpfung damit zu einem recht riskanten Unternehmen geworden, denn dieses Großexperiment mit ungewissem Ausgang wird nicht einmal von einem kundigen Experten der Technikfolgenabschätzung begutachtet.

Damit hat die Vorliebe für das Werden sogar die Köpfe etlicher Theologen erreicht, auch sie halten das Werden für den einzigen Garanten für Lebendigkeit. Und insofern sie als Christen an den lebendigen Gott glauben, wird auch er in die Zeit, ins Werden hineingeholt.


Das Werden als Quelle des Lebens?

Aber dieses Ansinnen ist vergebliches Mühen des theoretisierenden Menschen. Denn dem Werden, all den Prozessen, die Lebendigkeit oder Geist garantieren sollen, ergeht es nicht besser als dem Sein, das der Theoretiker zum Erstarren bringt: in ihnen lässt sich die Wirklichkeit des Mentalen wie des Lebens genauso wenig unterbringen wie im starren Sein.

Dies zu behaupten ist provokativ, es widerspricht ja auch all den modernen Plädoyers für das Lebendige. Um die These zu erhärten muss ich etwas ausholen.

Nach dem oben umrissenen traditionellen Schöpfungsverständnis bereichert das der Welt gegenüberstehende Sein – Gott – die Welt und das Arsenal der bereits in sie gesetzten Phänomene um jeweils etwas Neues: mit und neben den verschiedenen Schöpfungselementen der Genesis sind dies Leben, Bewusstsein, Verstand, moralische Urteilskraft usw. Diese Phänomene, einmal in die Welt gekommen, sind dann der irdischen Zeit unterworfen: sie entfalten sich in ihr. Das Werden irdischer Prozesse wurzelt jedoch letztlich im transzendenten Sein. Das Sein hat Priorität, das Werden ist nachgeordnet.


Dieses Denken findet unbemerkt einen säkularen Niederschlag, wenn von neuzeitlichen Physikern wie Newton irdische Prozesse selber aufgesplittert werden in Veränderungen und Zustände. Newtons Ontologie ist damit immer noch dualistisch: Die in sich ruhenden, an das Sein erinnernden Zustände scheinen sich wie Filmbilder zwischen die Prozessphasen zu schieben. Für die Veränderungen sorgen Kräfte. Und was sie verändern, das ist die vollkommen passive Materie bzw. sind die aus ihr zusammengesetzten nicht weniger passiven Gebilde. Verändernde Kräfte und die von ihnen veränderten jeweiligen Gebilde sind die säkularen Überbleibsel von Werden und Sein in ihrer alten ontologischen Gegenüberstellung. Das Werden ist zur Kraft mutiertz, das Sein hat sich in passive Materie gewandelt. Verschoben hat sich damit die Gewichtung, die Hierarchie steht auf dem Kopf: Nicht mehr das Sein ist das Kraftvolle, sondern das Werden. Ihm gelingt es, die Welt zu verändern. 

Die moderne Physik hat diese saubere Trennung von aktiver Kraft und passiver Materie, an der sich die Kraft abarbeitet, längst ad acta gelegt. Schon Wilhelm Ostwald will alle Phänomene dieser Welt monistisch auf Energie zurückführen. Und seit Einsteins berühmter Formel gibt es nichts mehr, das sich nicht letztlich als energetisches Geschehen, damit als Bewegung deuten ließe. Materie ist letztlich Energie, Sein letztlich Werden. Genau genommen wird also von der modernen Physik des 20. Jahrhunderts bezüglich des Zusammenhangs von Sein und Werden die Priorität noch einmal um 180 Grad gedreht und das Sein dabei geradezu eliminiert. Alles scheint letztlich Prozess zu sein. Insofern ist das, was ein Prozess ist, gar nicht zu Ende gedacht, wenn man ihn in Prozess und Ergebnis bzw. Zustand aufspaltet. Der Prozess ist Prozess und sonst nichts. Eine dualistische Aufspaltung gibt es für den Prozess selber gar nicht. Die Welt ist eine gigantische Überlagerung von Schwingungen, insgesamt ein schier unendlicher Megaprozess.


Prozesse lassen in sich und für sich nichts entstehen. Denken wir uns die Welt als reinen Prozess, dann bleibt sie für sich völlig blind. Sie ist toter als tot. Daran ändert sich nichts, wenn wir die natürlichen Prozesse um neurologische Wahrnehmungsprozesse erweitern: sie sind eine theoretische Absurdität: Der Hirnprozess, der die Wahrnehmung generieren soll, produziert allemal nur neue Prozesse, seien es nun weitere Hirn- oder andere Prozesse.

Ergebnisse als partielles zur Ruhe gekommenes Ganzes – etwa als Interims-Sein wahrgenommene Bilder, Melodien oder Sätze, genau so Gedanken und Willensakte – sind der kontingenten Prozess-Wirklichkeit fremd. Ergebnisse irgendeiner Art lassen sich in der Welt der Physik – in der Welt natürlicher Prozesse nicht unterbringen.

Denken wir uns die Wirklichkeit nämlich als eine einzige gewaltige Überlagerung sich wechselseitig beeinflussender Prozesse, als unermesslich raffiniertes Parallelogramm der Kräfte bzw. Ursachen, dann vernichten eben diese Kräfte und Ursachen von Moment zu Moment jeweils all das, was diese Wirklichkeit eben noch hervorgebracht hat. Vor lauter Sterben kommt diese Wirklichkeit gar nicht zum Leben. Permanent verschwindet mit der Wirkung, die all die Kräfte parallel ausüben, die bisherige Wirklichkeit. Wenn kein konservierendes Sein all das bewahrt, was gerade verfließt, gleich verflossen sein wird, dann „gibt“ es nur den gegenwärtigen Moment – und der wird gleich vergehen; eine Einsicht, der sich schon Augustinus beugte, die er bezogen auf unsere irdische Existenz für konstitutiv hielt (freilich unterstellend, dass dieser vergänglichen Gegenwartswelt eine göttliche gegenübersteht, in der alles das wieder zusammenfließt, was hier ständig versickert).

Von den „Nahtstellen“, an denen sich eine Kraft an einem Stück Materie, an einem Baustein welcher Art auch immer abarbeitet, gibt es schier unendlich viele. Reichlich viele von ihnen auch im Hirn eines lebenden Organismus. An jeder dieser Nahtstellen kann etwas passieren, findet ein  Ionenaustausch oder eine molekulare Bindung oder sonst etwas statt. Aber all diese Veränderungen kommen nicht zusammen, die Wirklichkeit löst sich in die ungeheure und unheimliche Summe dieser Mikrobewegungen auf. Genau genommen gibt es nicht einmal diese „Nahstellen“, denn auch sie lösen sich bei genauerer Betrachtung wieder in Kleinstprozesse auf. Von Synapsen beispielsweise können wir nur heuristisch sinnvoll sprechen, weil wir keine noch feiner auflösenden Mikroskope verwenden. Sie würden uns sehr schnell zeigen, dass sich hinter den scheinbar so deutlichen und relativ festen Zellwänden der Axonen oder Dendritendornen feinere dynamische Strukturen verbergen – und hinter denen noch kleinere.


Wer also das Prozesshafte, das Bewegen für die Quintessenz unserer Wirklichkeit hält, verliert sich in diesem Meer, geht in seinen Wellen unter. Um etwas Entstandenes wahrzunehmen bräuchte es ein Gegenüber von Prozess und Ergebnis, eine Spaltung von Subjekt und Objekt. Um irgendein Ergebnis eines Prozesses registrieren zu können, muss ich außerhalb des Prozesses stehen. Prozesse gebären aus sich heraus immer nur neue Prozesse. Kein mentales Phänomen lässt sich auf eine Auswahl solcher Kleinstveränderungen, die diverse chemische und elektrische Kräfte speziell im Hirn an Synapsen oder Axonenwänden bewirken, reduzieren. Es wäre buchstäblich nicht existent, wenn das mentale Phänomen aus der Summe dieser Nahtstellen bestünde. Nichts wird da lebendig, keine Erkenntnis, keine Wahrnehmung kann sich einstellen.


Deprimierende Zwischenbilanz

Egal also, ob ich die lebendige Wirklichkeit ausschließlich als ein prozessartiges Werden oder ausschließlich als aus einem fernen Sein gesteuert „begreife“: sie hat sich mir in beiden Fällen entzogen. So führt schon eine knappe Bestandsaufnahme der Verwendung der beiden Begriffe Sein und Werden zu einem deprimierenden Ergebnis. Gerade wenn wir eine einzelne letzte Ursache des Wirklichen ausfindig zu machen suchen, um unser lebendiges Dasein zu verstehen, dann scheinen weder das Sein noch das Werden gewogen, uns eine freundliche Antwort zu geben. Die Provenienz des Lebendigen, des Geistigen bleibt rätselhaft. Das Sein erstarrt ohne das Werden, das Werden bleibt blind ohne das Sein.


Oder doch beides?

Es liegt nahe, deshalb nach solchen philosophischen Vorstellungen zu suchen, bei denen die beiden Antipoden Sein und Werden als dialektisches Paar gemeinsam die Wirklichkeit erklären sollen. Ansatzweise ist dies ja schon der Fall, wenn das Sein das Werden initiiert, wie es in den traditionellen Wirklichkeitskonzepten der Fall war, wo das unergründliche Sein Gottes erst die Schöpfung und ihr Werden generiert. Freilich ist der Zusammenhang dann kein symmetrischer, sondern ein chronologischer: das Sein hat hier primär zeitlich den Vorrang.

Im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes habe ich versucht, die Konsequenzen einer Prozess-Ontologie radikal zu Ende zu denken. Dabei verschwindet jedes Gegenüber zum Prozess und damit auch jedes Reflektieren, denn dieses, darauf deutet schon das Wort hin, lebt von der Abspaltung des Denkens von der Wirklichkeit. Aber vielleicht ist diese Radikalität, die das Sein austrocknet, indem sie dem Prozess sämtliche Zustände stiehlt, übertrieben. Schon immer hat es nämlich Vermittlungsversuche gegeben, nach denen sich die Wirklichkeit pulsartig verändert.


Ein schönes Beispiel ist die Überzeugung mancher Sufis, nach der die Welt von Moment zu Moment jeweils ins Nichts versinkt und anschließend wieder neu geboren wird, freilich in leicht veränderter Form. Jede Veränderung verdankt sich damit einem Eintauchen in jenes mystische Nichts, das wir nie verstehen werden, dem aber alle Veränderungen zuzuschreiben sind, die uns – naiver Weise – so erscheinen, als ob sie auf irdische Ursachen bzw. Kräfte zurückzuführen wären.

Meist will es der moderne Mensch so genau gar nicht wissen. Ein transzendentes Sein oder gar ein mystisches Nichts ist ihm fremd geworden. Und auch das Werden wird eher pragmatisch als das alltägliche Nacheinander der Wirklichkeit verstanden denn als ontologische Bestimmung.

Etwas bescheidener, irdischer – aber im Grunde nur verkleinert vollzieht sich dieses Hin und Her zwischen Zustand und Prozess in jedem Handwerks- oder Industriebetrieb: Auf dem Fließband steht ein halb zusammenmontiertes Auto – ein Zustand, etwas Ganzes. Dieses wird einem Prozess unterworfen: so wird z.B. eine weitere Lampe eingebaut. Ein neuer Zustand ist erreicht. Dann rückt das Band weiter und der folgende Schritt des Herstellungsprozesses beginnt. Irdisches Sein (der aktuelle Zustand des Autos) und irdisches Werden (die Montage eines neuen Teils) tanzen einen Reigen miteinander. Abwechselnd hat jeder der Partner das Sagen.


Zum Problem wird dieser Vergleich jedoch, wenn er nicht aus der Perspektive eines Beobachters dargestellt wird, sondern sozusagen aus der Perspektive des Werkstücks, des werdenden Autos –aber dafür müsste dieses wahrnehmen, reflektieren, kurz: leben können. Diese Perspektive ist die einzige, aus der solche menschlichen Phänomene wie Leben, Geist und Freiheit ergründet werden können.



Teil II: Paradoxien und Dimensionen


Autos können nichts wahrnehmen und sind trotz aller eingebauter Elektronik nicht wirklich intelligent. Sie sind eben keine Subjekte. Deshalb verstehen sie auch weder, was passiert, während sie zusammengebaut werden, noch können sie das Fahren selber genießen. Wenn allerdings ein Wesen, das in der Lage ist, etwas wahrzunehmen und zu reflektieren, sein Werden, seine tagtägliche Verwandlung untersucht, dann haben wir bereits ein Subjekt, dann setzen wir bereits eine Wirklichkeit voraus, in der sich eine Subjekt-Objekt-Spaltung vollzogen hat. Mit dem Auftauchen des ersten Subjekts ist die Wirklichkeit kein reiner Prozess mehr: Die wahrgenommene Wirklichkeit verbirgt dann eine paradoxe Grundstruktur:


Paradoxes Musikhören: Sowohl als auch

Einerseits setzt die Wahrnehmung eines Subjekts voraus, dass Prozesse stattfinden: hören ist z.B. gar nicht anders denn als Prozess möglich, das hat Kant ja durchaus richtig gesehen. Eine Melodie wird erst durch die Abfolge ihrer Töne zur Melodie. Ja, selbst ein einzelner Ton ist genau genommen nur als Schwingung existent. Und diese Schwingung ist immer ein Hin- und Her einer Saite oder Luftsäule oder Membrane und nichts Starres. So gesehen hat Wahrnehmung immer Prozesscharakter.

Ginge die Melodie andererseits in diesem Prozess auf, dann gäbe es sie nicht. Das ist Edmund Husserls großartige Einsicht. Denn dann könnten wir uns die Melodie nicht als solche ver-gegenwärtigen. Wir wären blind und taub für die Veränderungen, die sich in ihr ausprägen, „existierten“ immer nur in dem einen Moment, der gerade zu Gegenwart geworden ist – also gar nicht. Nur ein Subjekt, das sich frei gemacht hat von der unbedingten Bindung an die Abfolge der Prozessstadien (der Töne), ein Konzertbesucher, dem gleichzeitig mehrere Töne der Melodie zur Gegenwart werden, kann an der präsenten Folge von Tönen erkennen, dass er gerade Magdalena Kožená eine Bach-Arie singen hört.

Mir scheint sogar, dass der Zusammenhang erst anders herum Sinn bekommt: indem die Wirklichkeit um die Möglichkeit erweitert wird, sich vom strikten Nacheinander der Prozessmomente wenigstens ein wenig zu befreien, wird die Bühne frei für das Auftreten des Subjekts. Subjekte sind, insofern das starre Nacheinander der Prozesse aufgebrochen wird.

Dieses kleine Maß an Freiheit scheint eine Konstituente von Subjektivität zu sein. Das ganzheitliche Sein eines Hörerlebnisses setzt überraschender Weise eine gewisse Unabhängigkeit vom Voranschreiten der Melodie voraus. Und diese Unabhängigkeit steht in einem klaren Widerspruch zum Wesen eines Prozesses. Wahrnehmung setzt voraus, dass die Zeitabläufe, in denen die wahrgenommenen Prozesse sich ereignen, sich der verfließenden Zeit nicht restlos unterordnen. Es gilt in gleicher Weise das Nacheinander wie auch die Gleichzeitigkeit. Das ist die Paradoxie jeder Wahrnehmung.


Die Analyse des Bewusstseins, die Analyse des Melodiehörens zwingt uns zu der Erkenntnis: in der Bewusstseinszeit herrschen andere Regeln als Immanuel Kant postulierte: Hatte dieser doch in seiner Kritik der reinen Vernunft apodiktisch festgehalten: „Sie (die Zeit) hat nur Eine Dimension: verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nacheinander... Diese Grundsätze gelten als Regeln, unter denen überhaupt Erfahrungen möglich sind... Verschiedene Zeiten sind nur Teile eben derselben Zeit.“

Dass Kant in diesem Fall so kategorisch jede Überlagerung von Zeiten ausschließt, verwundert ein wenig: ist es doch derselbe Autor und sogar im selben Werk, der seine Leser mit dem Aufweis von vier Antinomien überraschte – also widersprüchlichen Aussagen, für die die Vernunft in gleicher Weise logisch überzeugende Begründungen bereit hält. Mit seiner Antinomienlehre ebnet er Husserl den Weg, auch wenn er sie auf das Thema Zeitbewusstsein nicht anwendet.

Das hat Husserl dafür umso gründlicher getan, indem er herausgearbeitet hat, dass jedes mentale Phänomen auf diese Paradoxie angewiesen ist, in gleicher Weise als Prozess und als dem Zeitfluss wenigstens kurz enthobenes Sein verstanden zu werden. In seiner luziden Analyse des Musikhörens hat er dies bestens begründet. Freilich ist Husserl nicht der Meinung, dass die beiden Aspekte des Melodiehörens sich wechselseitig entwerten, wie dies bei den Antinomien Kants der Fall war. Vielmehr sind sie beide unverzichtbar. Deshalb ist auch das Wort Paradoxie hier eher am Platz. Allerdings haben wir damit die Paradoxie unserer mentalen Welt nur entdeckt, aber noch lange keine Erklärung dieses wundersamen Phänomens gefunden.


Anders als vermutet hat jedes mentale Phänomen also wirklich von beidem etwas: vom Sein und vom Werden. Aber nicht in dem Sinne eines Hin- und Her (so schön die Schöpfungsvorstellung der Sufis auch sein mag), sondern im Sinne eines rätselhaften Sowohl-Als-Auch.


Paradoxien: Auslöser von Skepsis und Faszination

Sein und Werden sind von den meisten Philosophen als Gegensätze verstanden worden. Insofern handelt es sich durchaus um eine paradoxe Aussage, wenn sowohl Sein als auch Werden als Voraussetzung für mentale Phänomene herhalten sollen. Solche Paradoxien sind unter Naturwissenschaftlern nicht beliebt. Als sich herausstellte, dass man nicht umhin kommt, dem Licht eine Doppelnatur zuzugestehen, insofern es sowohl Wellen- als auch Teilchencharakter hat, brach in der Weltgemeinde der Physiker keineswegs Jubel aus. Im Gegenteil hofften viele dieser Wissenschaftler, dass der Widerspruch der zwei Sichtweisen eines Tages gelöst werden könnte. Die Analyse Husserls, die im Bewusstsein eine paradoxe Zeitstruktur aufdeckt, hat es vielleicht auch deshalb nie geschafft, von den Naturwissenschaftlern ernst genommen zu werden.


Ganz anders sieht es bei Theologen oder überhaupt religiös gestimmte Menschen aus. Bei Lao-Tse ist es das weiche Wasser, das den harten Stein besiegt. Der ZEN-Buddhismus lebt geradezu von Paradoxien. Übrigens betreffen sie nicht zuletzt das Thema Zeit. So heißt es bei Daisetz Suzuki: „Satori nimmt Ewigkeit nicht als etwas wahr, das sich über eine unendliche Zahl von Augenblicks-Einheiten erstreckt, sondern erfährt sie im Augenblick selbst, da jeder Augenblick Ewigkeit ist.“ (D.Z., Leben aus Zen, 3° der Neuauflage Bern/München/Wien 1990, S. 103)

Und auch die Bibel ist voller paradoxer Denkfiguren. Die Bergpredigt unterstellt, dass die selig sind, von denen es der Zeitgenosse am wenigsten erwartet, da sie von ihren Mitmenschen verraten und verkauft sind. Der dreieinige Gott ist ein Gott und zeigt sich in drei Personen. Christus selber soll Mensch und Gott sein – wo doch jeder weiß, dass der Mensch nie heranreicht an den Wesensbereich Gottes. Und er lebt, obwohl er gestorben ist, obwohl doch der Tod bedeutet, dass der Organismus aufgehört hat, die Prozesse am Laufen zu halten, die zu seiner Selbsterhaltung nötig sind. All diese Beispiele bestätigen eindrucksvoll, dass für den religiös geprägten Menschen die Wirklichkeit von Paradoxien durchtränkt ist.


Stecken weitere Dimensionen der Wirklichkeit dahinter?

Ein deutscher Theologe, der sich sehr intensiv mit dem Verhältnis von Naturwissenschaften und Glauben abgegeben hat, stellt Paradoxien in einen Zusammenhang mit Dimensionen. Karl Heim schrieb 1931: „Das Dasein einer neuen Dimension tut sich dadurch kund, dass Fragen auftreten und Aussagen gemacht werden müssen, die den Rahmen des Entweder-Oder sprengen, in welchen die bisherige Unterscheidungssphäre eingeschossen war. (...) Das Paradoxon ist der Ausdruck der Grenze, die zwei Dimensionen voneinander scheidet.“ (Glaube und Denken, Berlin 1931, S. 68) - Wenn Heim Recht hat, dann zeigen echte, unlösbare Paradoxien an, dass unser Wirklichkeitsverständnis als raumzeitliche Newtonsche Kiste zu eng ist.

Und in der Tat: Etliche der Paradoxien, die nach seiner Interpretation signalisieren, dass wir mit unserem beschränkten unterdimensionierten Wirklichkeitsverständnis dem entsprechenden Phänomen niemals gerecht werden können, weil sie uns widersprüchlich erscheinen, beschäftigen den erkenntnishungrigen Teil der Menschheit schon sehr lange. Zählen wir einige der Fragen auf, deren Beantwortung in der Raumzeit Newtons seit jeher auf Schwierigkeiten stößt:

Wie erklärt sich die Auszeichnung einer Gegenwart gegenüber allen anderen Zeitpunkten des Raum-Zeit-Kontinuums? Oder als Sein-und-Werden-Rätsel formuliert:  was hebt das kleine Gegenwartssein aus dem Prozess des Werdens heraus?

Kann man das Leben wirklich verstehen, wenn man es einzig als Ergebnis von Prozessen begreift? Oder: Wird Leben nicht schrecklich entwertet, wenn es nie zu sich kommen kann, sondern sich in seinem prozessualen Voranschreiten verausgabt? 

Was führt die Einzelaspekte jedes Erlebens und jeder Wahrnehmung zur der Ganzheit zusammen, als die wir es oder sie nur erfassen können? Oder: Muss das Bemühen, Prozesse zu Ganzheiten zusammenzuführen, nicht gerade am Prozesscharakter elend scheitern?

Wie lässt sich Freiheit in einer Welt erklären, die restlos kontingent erscheint, deren jeweilige Gegenwart restlos als Durchgangsstadium sich überlagernder Prozesse begriffen wird? Dies muss gar nicht anders formuliert werden.


Das sind gewaltige Fragen, größere gibt es kaum in der Philosophiegeschichte. Alle haben etwas gemeinsam: sie berühren die Frage, ob das Sein ohne das Werden, das Werden ohne das Sein auskommt. Beantworten werden wir sie natürlich nicht. Aber vielleicht kann man doch erahnen, dass das Wirklichkeitsverständnis unserer Epoche, nach dem wir exklusiv in einer Welt des Werdens leben, eine Lösung grundsätzlich verstellt. Das wäre schon viel – sehr viel mehr hat die Philosophie selten erreicht. Relevant wäre diese Einsicht insofern, als sich mit einem neu geöffneten Wirklichkeitsverständnis sehr wohl eine religiöse Weltsicht vereinbaren lässt, während die Reduktion der Wirklichkeit auf Newtons vierdimensionale Kiste religiösen Überzeugungen wenig Entfaltungsmöglichkeiten bietet.


Noch mehr Skepsis und Faszination: diesmal bezüglich des Dimensionsbegriffs

Heim stellt also Paradoxien in einen Zusammenhang mit Dimensionen. Und deshalb sollten wir jetzt auch diesen Begriff untersuchen. Nur eine Sorte von Wissenschaftlern kann von Dimensionen sprechen, ohne dass ihr Skepsis entgegenschlägt: das sind die Mathematiker. Mathematisch lässt sich jeder n-dimensionale Raum sauber definieren. Allerdings verwahren sie selber sich häufig in aller Schärfe dagegen, den so definierten mathematischen Gebilden Realität zuzubilligen. Immerhin fragt auch ein Hermann Weyl: „Durch welche inneren Eigentümlichkeiten ist der Fall n = 3 ausgezeichnet? Wenn Gott bei der Erschaffung der Welt dem Raum gerade 3 Dimensionen verlieh, lässt sich dafür durch Aufdeckung solcher Eigentümlichkeiten irgendein ’vernünftiger’ Grund angeben?“ (Hermann Weyl, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaften, 3° München/Wien 1966, S. 94)

Härter geht Roland Weitzenböck (vgl. Der vierdimensionale Raum Basel/Stuttgart 1956, S. 19) mit Esoterikern ins Gericht, wenn er schreibt: „Alles, was ohne mathematische Grundlagen über die vierte Dimension behauptet wird, erweist sich bei näherer Betrachtung als Schwindel oder gehört in den Bereich dichterischer Phantasie.“ Auf keinen Fall wollen vernünftige Mathematiker den Esoterikern zuarbeiten, die in höheren Dimensionen Geisterwelten zu entdecken meinen.

Und diese Skepsis erscheint mir mehr als berechtigt. Es verwundert nämlich schon, wenn manche Esoteriker uns mit genauen Kenntnissen darüber überschütten, in wie vielen Dimensionen Gott vor sich hinwest. Hier scheint der Dimensionsbegriff vornehmlich die Funktion zu haben, das okkulte Wissen selbsternannter Gurus unter Beweis zu stellen. Das wird einen skeptischen Zeitgenossen bestenfalls amüsieren, vielleicht aber auch davon abhalten, sich auf diesen Begriff einzulassen.


Wenn man sich allerdings den Physikern zuwendet, die ebenfalls gerne mit dem Dimensionsbegriff umgehen, macht das auch nicht unbedingt glücklich. Wir erfahren vornehmlich von solchen Physikern, die rings um den Teilchenbeschleuniger CERN in Genf über die Frage diskutieren, wie viele Dimensionen die Wirklichkeit habe, dass es neun, zehn oder sogar elf seien. Nur dass diese Information, sollte sie zutreffen, uns auch nicht wirklich berührt, vielleicht so wenig wie Goethes Faust, der in der Studierstube auf das Zeichen des Makrokosmos stößt und nach kurzer Euphorie seufzt: „Welch Schauspiel! Aber ach! ein Schauspiel nur! Wo fass ich dich, unendliche Natur!“


Mancher Mathematiker würde sich vermutlich am wohlsten fühlen, wenn er sich aus den hehren Gefilden seines Faches erst gar nicht hinausbegeben müsste. Aber natürlich weiß er, dass es berechtigt ist, zu ergründen, was die Wesenszüge von tatsächlichen, physischen Welten sind, die einer bestimmten Dimensionalität zugeordnet werden. Ein dreidimensionaler Raum eröffnet z.B. den Körpern eine Szenerie. Und mit den Körpern kommt die Masse ins Spiel. Und mit ihr, wenn der Raum sich in der Dimension der Zeit befindet, auch die Kraft. Es ist mehr als logisch, dass die zentralen Bestandsteile der Newtonschen Physik sich nur in einer mindestens vierdimensionalen Raumzeit realisieren lassen. Eine Flächenwelt wäre keine Szenerie für Kräfte und Massen. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass die Raumzeit nicht allein dadurch charakterisiert wird, dass man ihre geometrischen Eigenschaften ermittelt. Mit diesen gehen Phänomene einher, die solche Welt erst bunt und komplex werden lassen. Galaxien wie Aminosäuren, Vulkane wie Tornados brauchen für ihr Auftreten in der Wirklichkeit die Raumzeit Newtons.

Ob dies jedoch für den Geist und die Freiheit, für das Leben und die Auszeichnung der Gegenwart gilt, ist damit noch nicht gesagt. Sollten diese Phänomene wesenhaft von weiteren Dimensionen abhängen, sollte für ihr Auftreten die unabdingbare Voraussetzung die Erweiterung unseres Weltmodells um mindestens eine weitere Dimension sein, wird man sie schlicht nicht hinreichend erforschen können, solange man daran fest hält, dass mit der Raumzeit die Grenzen des Wirklichen abgesteckt sind. Um genauer zu sein: etliche Aspekte dieser Phänomene, eine Art Seitenansicht wird man durchaus ermitteln können, jedoch nie das Phänomen in seiner ganzen Fülle.


Wer Dimensionen exklusiv als mathematische Modelle versteht, verstümmelt den Begriff. Nur weil er auch von Esoterikern missbraucht wird, darf er nicht auf das abstrakte Skelett reduziert werden, das der Mathematiker mit seinem Röntgenblick entdeckt, ohne das Fleisch und Blut wahrzunehmen, das dieses Skelett erst mit Leben füllt. Wie generell gilt: die Mathematisierbarkeit der Realität ist ein unschätzbares Mittel, um sie vor allem technisch verfügbar zu machen, freilich um den Preis, dass ihr Wesen ausgeblendet wird. Die mathematische Struktur eines Phänomens ist immer und allemal eine Abstraktion. Wer die Formel mit dem Wesen verwechselt, verkennt die Realität. Und dies gilt natürlich in besonderer Weise bei den Phänomenen, die in diesem Aufsatz verhandelt werden.

Wer also nach Hinweisen auf die Existenz einer fünfdimensionalen Wirklichkeit (einer Welt also, in der die Raumzeit um eine Dimension erweitert ist) sucht, der sollte sich nicht damit begnügen, das mathematische Modell einer derartigen Welt zu skizzieren. Vielmehr wird es erst richtig spannend, wenn man fragt, ob es uns bekannte Phänomene gibt, die dieser Wirklichkeit zuzuordnen sind. Denn wenn es eine fünfdimensionale Welt gibt, dann leben wir bereits in ihr – auch wenn uns die Sinnesorgane für die fünfte Dimension fehlen.


Newton – Kant – Einstein: Dimensionen bekommen allmählich physikalische Kontur

Die Verkürzung der Begriffe von Raum und Zeit in Isaac Newtons Sicht wird deutlich, wenn wir seine Begriffsauslegung mit der Kants und Einsteins vergleichen. Für Newton ist klar, dass sowohl die zeitliche wie auch die räumlichen Dimensionen, weil abstrakt-mathematisch definiert, unbegrenzt sind. Er nennt Zeit in seinen Mathematischen Prinzipien der Naturlehre ja auch ausdrücklich „mathematisch“ : „Die absolute, wahre und mathematische Zeit fließt aus sich selbst und ihrer eigenen Natur nach und ohne Beziehung zu irgend etwas Äußerem gleichförmig.“

Mathematisch lässt sich schlecht begründen, warum Zeit einmal angefangen haben soll – und auch nicht, warum ein Raum-Vektor an eine Grenze stoßen soll. Immanuel Kant hat sehr verwickelte indirekte Beweisketten vorgetragen, nach denen solche Aussagen der reinen Vernunft willkürlich sind und angeblich in gleicher Weise begründet werden kann, dass Raum bzw. Zeit endlich wie dass sie unendlich sind. Die Beweisketten werden nicht unbedingt von jedermann geschätzt – so hat Karl Jaspers darauf hingewiesen, dass die Unendlichkeitsbeweise beider Antinomien sehr viel überzeugender sind als die Endlichkeitsbeweise. Nichtsdestotrotz wird deutlich, dass für Kant Spekulationen über das Unendliche zwar menschlich, aber nicht unbedingt gültig sein müssen. Ob der Mensch aus der Befangenheit heraus, die sein Denken als endliches Wesen allemal begleitet, überhaupt zu letzten Wahrheiten kommen kann, scheint ihm fraglich.

Albert Einstein hat jedoch nicht abstakt-vernünftig, sondern sehr physikalisch und empirisch überprüfbar argumentiert, als er in seiner Relativitätstheorie die Kategorien Raum und Zeit zu Variablen machte. Keineswegs ist der Wirklichkeit ein Koordinatensystem unterlegt, das nach seiner Bereitstellung durch physische Körper „bestückt“ wird. Vielmehr sind Raum und Zeit abhängig von Geschwindigkeit und Masse dieser Körper oder Teilchen, die viel eher den Bestand der Wirklichkeit bilden.

Bewegt sich ein Teilchen annähernd mit Lichtgeschwindigkeit, dann vergeht die Zeit immer langsamer und die durcheilte Strecke wird kontrahiert. Für Photonen, die sich im Vakuum mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, verliert die Wirklichkeit sogar eine Raumdimension, weil in Bewegungsrichtung alle Entfernungen vollständig zusammengeschrumpft sind – und der Zeitfluss ist zum Stehen gekommen. Für Photonen – das ist der Sonderfall in Einsteins Welt – verliert die Wirklichkeit damit gleich zwei Dimensionen. Und Photonen sind durchaus Bestandteile unserer Welt. Diese eine Welt hat für die eiligen Photonen nur zwei, für langsamere Bewohner wie uns Menschen aber sicherlich vier Dimensionen. Schon diese Tatsache müsste uns vorsichtiger machen, wenn wir über Dimensionen nachdenken. Wenn die Zahl der Dimensionen sich verringern kann – könnte es nicht sein, dass sie sich auch gelegentlich erhöht?

Einstein unterstreicht also Kants Skepsis der reinen Vernunft gegenüber: sie mag alles mögliche „beweisen“. Ihre aseptische Reinheit ist letztlich wirklichkeitsfern. Am Ende erweisen sich solche Beweise immer wieder als hinfällig. Newtons mathematische Raumzeit war so ein Konstrukt einer irrenden reinen Vernunft, auch wenn erst Einstein dies überzeugend darlegen konnte.


Dimensionen sind manchmal kaum auszumachen

Nahezu alle aufgeklärten Menschen gehen seit mehreren hundert Jahren davon aus, dass die Wirklichkeit ausschließlich aus dreidimensionalen räumlichen Gebilden besteht, die sich mit der Zeit verändern. In diesen vier Dimensionen steckt alles drin, was die Wirklichkeit zu bieten hat. Das ist der Grundgedanke des philosophischen Naturalismus.

Vordergründig zeigt sich uns die Wirklichkeit nun mal dreidimensional – und dass die Zeit ständig vergeht, verrät uns ein Blick auf die vielen Uhren unserer Umgebung. In Erstaunen setzen uns Zeitgenossen eher Historiker, die belegen können, dass Menschen nicht immer so gedacht und empfunden haben. Der Mensch des Mittelalters kannte ein differenzierteres Zeitgefüge, in dem es noch Berührungspunkte zu einer göttlichen Ewigkeit gab und das Tempo der irdischen Lebensabläufe noch nicht vom gleichmäßiger Schlag der Uhren normiert war. Unser Zeitempfinden ist also kulturell geformt.

Bleiben wir aber erst mal beim Raum: Eine simple Analyse der Wahrnehmung ergibt, dass die Natur Tricks anwendet, die den Tieren helfen, sich ihrer räumlichen Umgebung zu vergewissern: Der Tastsinn hat es am einfachsten, sich des Raumes zu bemächtigen: immerhin kann der Gesunde bei vollem Einsatz aller zehn Finger sich aus verschiedenen Perspektiven eines Gegenstandes vergewissern. Bei den Fernsinnen ist es nicht ganz so einfach: die meisten höheren Lebewesen nutzen gleich zwei Augen, um aus dem Abgleich zweier flächiger Abbildungen ein räumliches Bild der Wirklichkeit zu  konstruieren. Die einzelne Retina ist eine Zellschicht und rezipiert das einfallende Licht keineswegs dreidimensional. Einäugige haben Schwierigkeiten mit dem räumlichen Sehen, können deshalb Entfernungen – diese entsprechen der dritten Dimension des Raumes – schlechter abschätzen, müssen andere Methoden heranziehen als das Gehirn, das zwei flache Bilder geliefert bekommt. Kein Problem haben sie hingegen mit dem Erfassen von Flächen oder gar Linien.

Daraus lässt sich eine wichtige Vermutung ableiten: ein n-dimensionales Gebilde lässt sich am zuverlässigsten wahrnehmen, wenn der Wahrnehmende ein Bewohner einer Welt mit n+1 Dimensionen ist. Die eigene Dimensionalität zu erfassen ist hingegen etwas schwieriger. Sie wird eher erschlossen als unmittelbar erfahren. Immerhin ist dafür im Laufe der Naturgeschichte ein immer besseres Instrumentarium entwickelt worden.

Noch schwieriger wird es, wenn wir Phänomene begreifen sollen, deren Struktur aus mehr Dimensionen besteht als unsere physische Umgebung. Man ahnt schon: höher dimensionierte Gebilde zu erkennen ist schier unmöglich – sie werden automatisch, reflexhaft uminterpretiert zu solchen, deren Dimensionalität unserer Alltagswelt entspricht. Wobei die Alltagswelt die Interpretation der Wirklichkeit ist, die sich in einem Kulturkreis durchgesetzt hat.


Sehr schön hat das ein britischer Lehrer in einem Roman veranschaulicht: Edwin Abbotts kleines mathematisches Fantasiestück Flächenland schildert die Begegnung von zweidimensionalen Gebilden mit einer logischer Weise dreidimensionalen Kugel. Ich habe das an anderer Stelle (Stein und Zeit, Buchhagen 2012) schon ausführlicher dargestellt – es ist auch im Internet leicht zu finden – und komme deshalb gleich zu seiner Quintessenz: zwar kann man höhere Dimensionen logisch oder mathematisch herleiten, aber veranschaulichen kann man sie kaum. Im Gegenteil, die Sichtweise eines höherdimensionalen Wesens bleibt rätselhaft. So kann die Kugel in die „Körper“ – es handelt sich um Flächen – der Bewohner von Flächenland hineinsehen und z.B. feststellen, was sie gegessen haben. Eine Vorstellung, die den Flachländern verständlicher Weise nicht behagt. Sie umgekehrt können die Lebenswirklichkeit der Kugel nicht ansatzweise nachvollziehen: diese taucht zwar als Schnitt in ihrer Welt auf, der sich zudem noch vergrößert, verkleinert, zum Punkt wird oder ganz verschwindet. Aber dafür suchen sie eher nach anderen Erklärungen als diesen Wandel auf eine höhere Dimension zurückzuführen. Dennoch treten die Flachländer und die Kugel in einen echten Kontakt. In Abbotts Phantasie können sich Wesen unterschiedlicher Dimension begegnen, aber nur begrenzt verstehen.

Vor ähnlichen Schwierigkeiten sah sich übrigens der Philosoph in Platons Höhlengleichnis, als er den ihm ausnahmsweise von seinen despotischen Herren gewährten Ausflug ans Licht beendet hatte. Vergebens versuchte er, seinen neben ihm gefesselt vor der Höhlenwand sitzenden Kumpanen die neue Einsicht zu erläutern, nach der die Schatten an der Felswand Abbilder der wahren Gegenstände seien, die von den sympathischen Wesen, die sie hier festhielten, vor einem hinter ihnen brennenden Feuer vorbeigetragen würden. Er ist der einzige, der weiß, dass hinter den Schatten mehr steckt, dass die Wirklichkeit dieser schattigen Wesen noch eine andere Sphäre besitzt. Leider kann er seine Leidensgenossen nicht überzeugen. Nicht zufällig verbirgt sich dahinter auch ein Dimensionsproblem: Schatten sind flach, die Gegenstände, die den Schatten werfen, hingegen räumlich.


Vorsichtige Spekulationen über eine zweite Zeitdimension

Um die Schwierigkeit, etwas anschaulich zu machen, was sich eigentlich nicht veranschaulichen lässt, kommen wir nicht herum. Hier beginnt also der spekulative Teil des Aufsatzes. Wittgenstein würde spätestens jetzt raten, zu schweigen. Aber wenn der Verdacht übergroß wird, dass die Wirklichkeit sträflich verengt wird, weil man immer noch schweigt, während man sich bereits sicher ist, dass die Wirklichkeit Dimensionen birgt, die trotz ihrer Schemenhaftigkeit zu ihr gehören müssen, dann wird Spekulation zu einer übergroßen Verführung für den philosophisch eingestellten Menschen. Dann steche ich lieber in See und verlasse auf gut Glück Kants Insel des reinen Verstandes, auf der außer Kategorien und Begriffen nichts gedeihen will, um auf See Abenteuer zu suchen, die vielleicht in der Tat niemals zu Ende zu bringen sind... (vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Abschnitt Phänomena und Noumena).

Es geht präzise um die Frage, ob nicht mindestens eine zweite Zeitdimension unsere Wirklichkeit prägen muss, weil ohne sie gewisse Phänomene der inneren Logik in besonderer Weise entbehren. Denn im Gegensatz zu Kant und Wittgenstein bin ich der Meinung, dass wir uns ans Unbekannte mit Gedanken und Worten herantasten können. Die Tuchfühlung zum Bekannten zu halten und dennoch das Unbekannte zu suchen, das scheint mir ein Wesenszug des reflektierten Menschen zu sein. Tuchfühlung: es geht nur um eine weitere Zeitdimension, wir bleiben ganz nah am Bekannten! Auf weitere Dimensionen werde auch ich mich erst gar nicht einlassen!


Zunächst muss geklärt werden, was überhaupt eine zweite Zeitdimension sein könnte. Versuchen wir es mit einer Analogie: Im Raum sind die drei Koordinaten Höhe/Breite/Länge austauschbar. Sie stehen (in der euklidischen Geometrie) rechtwinklig zueinander. Aber in welcher Zuordnung, das ist egal. Sie haben eine abstrakte Gemeinsamkeit: man kann an alle drei denselben Maßstab mit derselben Maßeinheit anlegen. Es ist reine Konvention, in bildlichen Veranschaulichungen den x-, y-und z-Achsen traditionell dieselbe Koordinatenbeschriftung zuzuordnen. Und das ist im praktischen Leben übernommen worden. DHL z.B. sortiert typischerweise so: 1. Länge ist das Format eines Päckchens meist quer zum eigenen menschlichen Körper, von links nach rechts gemessen, 2. Breite ist das Format vom Körper weg gemessen und 3. Höhe das Format vom Boden Richtung Himmel gemessen. Länge, Breite und Höhe ließen sich auch anders nennen oder zuordnen. Denn alle drei Dimensionen sind von derselben Art.

Was heißt das bezüglich der zwei Zeitdimensionen? Wenn die Analogie erlaubt ist, dann sind auch sie austauschbar. Die 2. Zeitdimension misst also ebenfalls einen Abschnitt auf einem Zeitstrahl. Das, was sie misst, müssten in unserer irdischen Zählweise auch Sekunden, Minuten, Jahre sein. Irgendwie muss diese Dimension außerdem „verquer“ zur ersten Zeitdimension stehen. Das zeitliche Pendant zu „rechtwinklig“ muss allerdings erst noch gefunden werden. Was also soll das heißen, dass diese Zeitachse „verquer“ zur verfließenden Zeit steht?

Darauf kenne ich drei Antworten. Zwei überzeugen mich nicht: Erstens könnte man – eine nahe liegende Idee – die zweite Zeitdimensionen als rückwärts laufende Zeit verstehen, als Umkehrung des Zeitstrahls. Das liefe zusätzlich auf eine schlichte Verschiebung des Nullpunktes hinaus, in dem die beiden Zeitvektoren wurzeln. Es gäbe dann zwei Nullpunkte, einen in der Vergangenheit und einen in der Zukunft. Dass sich die Prozesse in ihrer Richtung schlicht umdrehen lassen, widerspricht allerdings der ursprünglichen Richtung der Zeit und all den Argumenten, die seit der Formulierung des Entropiegesetzes und verstärkt von den Anhängern der Chaosmathematik ins Feld geführt worden sind. Ein Hin und Her zwischen Zukunft und Vergangenheit wäre das Ergebnis, keine Bereicherung der Wirklichkeit, sondern eher eine Entwertung, eine sinnlose Wiederholung, die auch noch mit dem Makel behaftet ist, dass sich Entropie nicht umdrehen lässt. Ähnlich sinnlos wäre es, eine zweite Raumdimension dadurch zu definieren, dass man auf z.B. der y-Achse einen zweiten Nullpunkt festlegt.

Da die Zeit nun mal „fließt“ und es wenig Sinn hat, die Flussrichtung umzukehren, sollten wir lieber darüber nachdenken, ob es ein anderes Pendant geben kann als die Richtung des Flusses. Der Leser dieses Aufsatzes kennt die Antwort schon: der eigentliche Gegensatz zur fließenden Zeit ist die extendierte Gleichzeitigkeit, wie Husserl herausgestellt hat. Er entdeckt sie im Zeitbewusstsein – sie ist damit sogar Voraussetzung für jeden Bewusstseinsakt, insofern jeder Bewusstseinsakt in der Zeit verläuft. Da es ohne Zweifel Bewusstsein gibt, lässt sich rückfolgern, dass es diese zweite Zeitdimension der extendierten Gleichzeitigkeit geben muss. Die zweite Zeitdimension misst, wie ausgedehnt die Gegenwart ist. Was irdische Wesen angeht, scheint es sich dabei um Sekunden oder Sekundenbruchteile zu handeln.

Der in Sekunden oder anderen Zeiteinheiten gemessene Umfang der Gleichzeitigkeit ist die „verquere“ Messrichtung für diese Zeitachse. Uns kommt das paradox vor. Aber einem Bewohner von Flächenland kommt auch der Raum paradox vor: das hat Abbott durch sein Gespräch zwischen der Kugel und dem Flächenlandbewohner schön illustriert.

Die dritte, wieder unbrauchbare Antwort auf die Frage, was „verquer“ zu Newtons Zeitstrahl heißen mag, findet sich im Versuch einer Widerlegung der von mir favorisierten, eben geschilderten Erklärung: Der Mathematiker Roland Weitzenböck möchte die Ansichten zweier Autoren widerlegen, nach der es einem Wesen, das zwischen zwei Zeitdimensionen aufgespannt ist, möglich ist, „seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig zu übersehen“. (Der vierdimensionale Raum, a.a.O., S. 94 f.) Die ganze Argumentation, die von Weitzenböck begrifflich nicht sehr sauber entfaltet wird (weshalb ich mich bei der Zitatauswahl beschränke) dient dazu, speziell die Ansicht eines französischen Autors namens M. Boucher zurückzuweisen.

Weitzenböck entwickelt zunächst ein Szenario, nach dem ein im Grunde dreidimensionales Wesen sich entlang einer Weltlinie bewegt, die von zwei Zeitachsen komplettiert wird. Der Übersichtlichkeit halber kürzt er zwei der Raumdimensionen heraus. Also wandert das Wesen als Punkt entlang der x-Achse. Was dabei also zugrunde gelegt wird, ist ein dreidimensionales Koordinatensystem von zwei t-Achsen und einer x-Achse, entlang der sich das Wesen sich bewegen soll. Dass dies auf eine dritte Zeitachse hinausläuft, hat er im Eifer des Gefechts wohl übersehen: wo sich etwas bewegt, fließt die Zeit. Jetzt behauptet er, dass die zweite Zeitdimension zu jedem Gegenwartsmoment die konzentrischen Kreise seien, die sich um jeden Gegenwartspunkt legen lassen. „Die Zeitkreise können wir hierbei durch eine zweidimensionale Uhr fixieren, die etwa aus einer gewöhnlichen Uhr entsteht, indem man einem Zeiger eine veränderliche, mit der Zeit t2 wachsende Länge erteilt.“

Es entsteht kreisförmig eine Zeitebene um jeden Gegenwartspunkt – die dadurch bestimmt ist, dass alle auf ihr eingetragenen Ereignisse eben gleichzeitig stattfinden. Denn Weitzenböck ist es ja wichtig, dass die zweite Zeitdimension nicht über die Gegenwart hinausragt, keinesfalls darf sie ein Stück Zukunft oder Vergangenheit einschießen.

Weitzenböck macht gleich zwei Fehler: ersten geht er nicht darauf ein, was denn die variable Länge des Zeigers seiner „zweidimensionalen Uhr“ messen soll. Alle Messwerte sagen bei ihm nämlich ausschließlich: es gibt eine Zuordnung zur jeweiligen Gegenwart. Aber dies ist eine Konstante, keine Variable. Die Länge des Zeigers weist ins Leere.

Zweitens verräumlicht er die Zeit t2, die seinem Uhrzeiger entspricht. t2 spielt jetzt nämlich exakt die Rolle, die eine der weggekürzten Raumkoordinaten spielen müsste, hätte er sie nicht herausgestrichen. Ihm ist die räumlich verstandene Lage der Uhr wichtig – aber was „rechtwinklig“ oder „90°“ in Bezug auf Zeit bedeutet, das fragt er sich nicht. Gesucht werden muss nämlich nach einer „Richtung“, die so wenig wie möglich Newtons Zeitstrahl entspricht. Und nicht nach einer Dimension im Raumkonzept.


Mich überrascht Weitzenböcks Intervention gegen die zweite Zeitdimension im Sinne ausgedehnter Gegenwart nicht: erst diese Bestimmung hat gegenüber einer naturalistischen Weltdeutung Sprengkraft. Wer also – vielleicht sogar ohne sich darüber Rechenschaft zu geben – dieser Weltsicht huldigt, muss sie einfach ablehnen!

Uns bleibt erstens gar nichts anderes übrig, als das Maß dieser zweiten Zeitachse (t2) ernst zu nehmen, das dasselbe ist wie das der „Normalzeit“, also sich in Sekunden, Stunden, Tagen gliedert. Und zweitens zu fragen, in welcher Richtung dieses Maß angelegt werden muss.


Kernaussagen über Zeitdimensionen

Zusammengefasst hier die zentralen Aussagen über Zeitdimensionen: Während auf der ersten Zeitachse (t1) der Abstand zwischen dem Auftauchen eines Ereignisses und seinem Verschwinden gemessen werden kann, also z.B. die Lebensspanne eines Menschen zwischen Geburt und Grab, scheint es mir für die zweite nur eine „Richtung“ zu geben: t2 misst die Ausdehnung der in einem Moment von einem Subjekt als Gegenwart empfundenen Zeitspanne. Dies sagten schon die Autoren, die Weitzenböck zu widerlegen versucht (Halsted und Boucher). Und dies ist auch die Quintessenz von den Zeitanalysen, die Husserl vorgelegt hat. Nur diese „Richtung“ weicht maximal von der Richtung des Zeitstrahls ab, was der räumlichen Rechtwinkligkeit am ehesten entspricht. Husserl hat im Laufe der Zeit seine Theorie dahingehend verfeinert, dass er die von ihm „Retentionen“ genannten Nachwirkungen z. B. eines Tons als sich verändernde Größe ansah: sie sollten zunehmend abgeschattet erscheinen. Insofern ist die zweite Zeitdimension eine, in der die Wirkung einer Wahrnehmung schwächer und schwächer wird, bis sie ganz aufhört.

Die Raumdimensionen sind mathematisch gesehen homogen, isotrop. Es gibt keine Bevorzugung einer Richtung, wenn man sie erkundet, keine Abstufung, Abschwächung oder ähnliches. Die Zeitdimensionen sind beide nicht isotrop: Die eine (t1) bildet so oder so eine geordnete Zeitreihe, egal ob man sie als Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft definiert oder als früher – später. Für unser Erleben gilt: Zeit fließt, Zeit ist kein stehendes Gewässer. In dieser Dimension vergehen die Dinge, gibt es ein Auf- und Abtauchen der Wirklichkeit. Was die andere Richtung (t2) angeht, die extendierte Gegenwart, spricht Husserl von Abschattung. Je weiter man auf ihr vorankommt, desto schwächer wird der wahrgenommene Effekt. Zu den Rändern des Zeitobjekts hin schwächt sich die Intensität ab. Aufgrund dieser Nicht-Isotropie ist es völlig unangemessen, Zeit als vierte Raumdimension zu deuten: sie verbirgt eigene, nicht-räumliche Strukturen.


Man kann sich das Zusammenspiel der beiden Dimensionen noch am ehesten veranschaulichen, wenn man sie in der Phantasie jeweils isoliert betrachtet und fragt, ob so ein Bewusstseinseffekt eintreten könnte:

- Wenn eine Melodie als reiner Prozess existierte (t1), wenn die Melodie reines Nacheinander wäre, dann könnte zwar nacheinander Ton für Ton sehr kurz (eigentlich mehr als kurz) und vorübergehend ins Bewusstsein gelangen – falls es das dann gäbe –, aber das ganzheitliche Melodieerleben stellte sich nicht ein, denn jeder Ton, jedes Tonfragment käme ja erst dann zu Gehör, wenn der/das vorherige verschwunden wäre.

- Wenn ein Tonereignis reine Verschattung wäre, könnte man zwar wahrnehmen, wie dieser eine Ton in der jeweiligen Gegenwart immer schwächer würde, aber es kämen keine weiteren Töne dazu, denn laut Prämisse gäbe es nur diese Verschattungsdimension (t2), nicht die verfließende Zeit, die erst die nächsten Töne heranführen würde: eine Melodie entsteht so auch nicht.

Erst die Kombination beider Dimensionen der Zeit lässt die Melodie vor unserem geistigen Ohr erklingen. Erst die Überlagerung beider Dimensionen macht aus der Linearität beider Aspekte das ganzheitliche Melodieereignis. Beide sind zwingende Voraussetzung.


Die erste Zeitdimension ist jedermann geläufig. Mit der zweiten sieht es nicht ganz so gut aus. Aber seit etwas mehr als hundert Jahren findet auch sie immer mehr Anerkennung: Dass das Empfinden von Gegenwart seine Ausdehnung hat, untersuchen seitdem Empiriker. Erstmalig vermessen wurde die Ausdehnung der Gegenwart Ende des 19. Jahrhunderts in Leipzig von Wilhelm Wundt und seitdem immer wieder. Früher dachte man noch, dass alle wahrnehmenden Sinne die gleiche „Gegenwartsausdehnung“ hätten, aber das hat sich als Irrtum erwiesen: die verschiedenen Sinne ragen nicht gleich weit in diese zweite Dimension der Zeit hinein. Sie lassen sich auf der Skala der zweiten Zeitdimension relativ präzise markieren. Freilich fehlt den meisten Forschern die Einsicht, dass es sich um eine Dimension handeln könnte. Obwohl dies elegant und naheliegend ist, versuchen sie mit verwegenen Theorien, diese Ausdehnung beispielsweise durch „Kurzzeitspeicher“ zu erklären, eine Erklärung, die im Grunde schon Husserl widerlegt hat – der übrigens in Leipzig u.a. bei Wundt sein Studium begonnen hatte. Um sich damit seriös in angemessener Ausführlichkeit auseinander zu setzen, dazu bedürfte es eines eigenen Aufsatzes.


Was ist es nun aber, das in einer zweidimensionalen Zeitwelt auftaucht? Was sind zweidimensionale „Zeitobjekte“ – ein Begriff, der bei Husserl immer wieder auftaucht? Gehen wir wieder von der Analogie aus: Eine Fläche ist gegenüber Linien und Punkten etwas vollkommen Neues. Eine Fläche ist keineswegs die Summe aller Punkte. Auch unendlich viele Punkte bilden keine Fläche. Wo also zwei (oder drei) Raumdimensionen ein Gebilde prägen, entsteht in der Wirklichkeit etwas Neues, für das es in der niederdimensionierten Wirklichkeit nicht einmal Bausteine gibt.

In gleicher Weise muss man Gebilde beurteilen, in denen zwei Zeitdimensionen nachweisbar sind. Zeit bekommt durch die zweite Dimension plötzlich in gewisser Weise „Fülle“, ist nicht mehr nur Skala! Gebilde, die zwei Zeitdimensionen aufweisen, sind mehr als Verlaufsmomente, sind mehr als Verschattungsgrade. Dieses Mehr scheint mir mit dem Geist zu tun zu haben. Nicht mehr und nicht weniger. Wir wissen seit Husserl nur, dass mentale Phänomene die beiden Bedingungen erfüllen: sind sie da nicht die aussichtsreichsten Kandidaten für wirkliche zweidimensionale Zeit-Gebilde?

Dabei ist aber unbedingt zu beachten, dass die Dimensionen selber nicht mit dem Geist gleichgesetzt werden dürfen. Zwei Zeitdimensionen sind nicht der Geist, aber sie geben ihm die Möglichkeit des Erscheinens. Beim Raum ist das nicht anders: die Raumdimensionen sind nicht die Körper, vielmehr wird dieser durch Atome, Moleküle, Gewebe oder was auch immer gebildet. Die Bausteine der Körper haben aber alle die Gemeinsamkeit, dass sie jeder für sich dreidimensional sind. Auf die Zeit angewandt bedeutet dies: die beiden Zeitdimensionen bilden nicht den Geist, aber sie ermöglichen ihn, geben ihm seine Sphäre. Mentale Phänomene haben alle eine zweidimensionale Zeitstruktur. Aber damit sind sie nur äußerlich, nur abstrakt bestimmt.   


Zeitobjekte sind von grundsätzlich anderer Art als Raumobjekt, ja, es ist sogar fraglich, ob der Begriff „Objekt“ nicht sogar das Eigentliche dieser Gebilde verfehlt. Immer stärker drängt sich mir die Vermutung auf, dass sie viel eher als Objekte eben ... Subjekte sind. Gäbe es wirklich nur die Raumzeit (R1,2,3T1), wäre die Welt nicht nur ein geistiges Vakuum, sondern zudem noch vollkommen anonym. Bewusstsein wäre wie das Ich eine Illusion und Thomas Metzinger hätte (mit seiner steilen These: „Das Ich ist eine Illusion“) am Ende sogar noch Recht. Erst mit der zweiten Zeitdimension zieht der Geist in die Welt ein, tauchen Subjekte in ihr auf, meldet sich das eine oder andere Ich zu Wort.


Kronzeuge Husserl

Am Ende dieses Teils meines Aufsatzes soll eine kurze Betrachtung über das Verhältnis Husserls zu den hier entwickelten Begriffen – Paradoxie und Dimension – stehen. Es fällt nämlich auf, dass die Interpreten Husserls den Begriff „Paradoxie“ immer wieder in den Mund nehmen (so z.B. die Philosophin Karen Gloy), Husserl selber aber m.W. nicht (zumindest ist mir bei der Lektüre seiner Texte dieser Begriff nicht aufgefallen). Warum dem so ist, weiß ich nicht – vielleicht teilte er die in Wissenschaftlerkreisen zu seiner Zeit verbreitete Aversion gegen den Begriff. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass er Strukturen beschreibt, die dem Begriff in jeder Hinsicht gerecht werden.

Ähnlich sieht es beim Begriff „Dimension“ aus. Ganz viele Begriffspaare Husserls ähneln der Zerlegung des Zeitbewusstseins in zwei Dimensionen. So z.B. die Zerlegung der Tonwahrnehmung in eine Quer- und eine Längsintentionalität (Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, Nr. 54). Es gibt sogar eine interessante Belegstelle, die immerhin andeutet, dass Husserl zumindest darüber nachgedacht hat, ob der Dimensionsbegriff sich nicht eignen könnte, um Bewusstsein zu beschreiben. Weil es allemal entlastend ist, sich auf anerkannte Autoritäten zu berufen, möchte ich die Passage etwas ausführlicher darstellen. Husserl bezieht sich auf eine Debatte darüber, ob Erinnerung nicht aus unendlich vielen ineinander geschachtelten Wahrnehmungskontinua besteht: Man erinnert sich an einen Moment, der in sich wieder Erinnerungen an einen früheren Moment in sich birgt usw. Husserl kommentiert:

„Das aktuelle Jetzt umschließt erinnerungsmäßig ein Kontinuum der Vergangenheit. Jedes neue Jetzt schließt diese Kontinuität der Erinnerung wieder ein, das wieder neue Jetzt das neue Erinnerungskontinuum etc., und so stetig. Wir haben ein Kontinuum von Kontinuen, und jedes angeschlossene Kontinuum ist von jedem anderen verschieden: Die Erinnerung an eine Erinnerung ist niemals identisch mit einer schlichten Erinnerung.

Ist das nicht eine Absurdität? Eine Kontinuität, die andere Kontinua einschließt, ist möglich, und sogar unendlich viele Kontinua. Die Kontinuität der Strahlen in einem Strahlenbündel: es ist ein Kontinuum, dessen Punkte selbst Kontinua sind. Hier haben wir ein zweidimensionales Kontinuum; bzw. dreidimensionales.

Wie in unserem Falle? Haben wir wirklich ein Kontinuum von unendlich vielen Dimensionen? Haben wir nicht vielmehr ein zweidimensionales Kontinuum?“  (Texte zur inneren Phänomenologie des Zeitbewusstseins, Hamburg 1985, Nr. 50, S. 194) [Husserliana S. 328]

Hier taucht der Begriff „Dimension“ bei der Analyse der sich ausdehnenden Erinnerung auf. Deutlich werden die Vorstellungsschwierigkeiten, die sich immer einstellen, wenn wir aus dem an Linearität gewohnten Denken heraus etwas erfassen wollen, das sich dieser Linearität hartnäckig widersetzt. Lieber schienen die Autoren, mit denen sich Husserl hier auseinandersetzt (Hugo Bergmann und Franz Brentano), ein Strahlenbündel, eine Summe linearer mentaler Pfade in die Vergangenheit zu akzeptieren, als sich auf eine zweite Dimension von Zeit einzulassen. Husserl erkennt demgegenüber, dass es wohl keinen Sinn hat, an unendlich vielen einzelnen Erinnerungspfaden festzuhalten. Die Schlussfrage („Haben wir nicht vielmehr ein zweidimensionales Kontinuum?“) zeigt, dass auch er im Moment dieser Niederschrift dazu neigte, dem Zeitbewusstsein eine zweite Dimension zuzugestehen. Dennoch soll nicht verschwiegen werden, dass  Husserl immer wieder, quälend oft neu ansetzend versucht, ausgehend von einer „Urimpression“ Zug um Zug das ganze Spektrum von damit zusammenhängenden Kontinua zu entfalten. Dies haben seine Nachfolger so nicht mehr sehen wollen und haben daher einen wesentlich potenteren Begriff von Extension des Jetzt entwickelt. Besonders weit geht da Emmanuel Lévinas, der erkennt, dass Bewusstsein nur möglich ist, wo sich die Zeit gegen sich selbst verschiebt, zu sich selber Abstand gewinnt.

Insofern basieren die hier vorgelegten Überlegungen auf den Zeitanalysen Husserls, führen sie jedoch weiter. Husserl war der erste, der akribisch versuchte, den Begriff der linearen Zeit aufzubrechen und hat hierfür die entscheidenden Grundgedanken entwickelt. Diese ungemein anregende Idee wurde dann vielfältig fruchtbar und ist in ihren Konsequenzen meines Erachtens noch gar nicht erschöpfend ausgelotet. Mein hier vorgelegter Beitrag hierzu besteht darin, zu ermitteln, inwieweit der Dimensionsbegriff sich dazu eignet, die eigenartige Zwiegespaltenheit der Bewusstseinszeit einzufangen. 



Teil III: Kausalität oder Bindung


Nur das Erleben ausgedehnter Gegenwart, das Eintauchen in die zweidimensionale Welt des Erlebens ermöglicht die Erfassung von Ganzheit, also das, was jedes mentale Phänomen auszeichnet. Versuchen wir uns vorzustellen, wie solche Ganzheit sich in dieser ausgedehnten Gegenwart bildet, geraten wir ins Straucheln. Auch die Formulierungsqualen, die man Husserls immer wieder neu anhebenden Zeittexten anmerkt, haben hier ihren Grund. Wir können uns zwar vorstellen, dass dann eine neue, ganz andere Kette des Nacheinander entsteht, die eben hin- und herspringt zwischen mehr oder weniger vergangenen und gegenwärtigen Tönen. Aber dieses anders sortierte Nacheinander, diese Umsortierung von Punkten auf dem Zeitstrahl soll ja gerade ausgeschlossen werden: Solange nur das Nacheinander, sei es wie auch immer sortiert, vorkommt, fehlt dem Geschehen ja immer noch die Gleichzeitigkeit. Deshalb kann das neue Nacheinander die Ganzheit mentaler Phänomene immer noch nicht gewährleisten. Ermöglicht wird sie scheinbar nur dadurch, dass paradoxer Weise das Nacheinander genauso gilt wie die Gleichzeitigkeit. Dass das Nacheinander eine Gleichzeitigkeit beinhaltet. Dass Zeit zweidimensional existiert. Die Gleichzeitigkeit vernichtet das Nacheinander gerade nicht, sondern integriert es zu einer Einheit. Einheitsstiftend ist nicht das Werden allein, sondern nur ein extendiertes Sein, das sich aus dem Werden rekrutiert.

Nun  hat sich die Neuzeit schon lange festgelegt auf ein striktes Nacheinander aller Ereignisse eines Prozesses. Sie hat insbesondere die Naturerforschung methodisch an die eine der vier aristotelischen causae, die causa efficiens, die ihr bald schlechthin für Kausalität gilt, gebunden. Vermutlich wurde sie durch die auf diese Weise explodierende technische Beherrschung der Natur dazu verführt. Erkauft wurde dies jedoch durch eine ungeheure und unheimliche Verarmung des Wirklichkeitsverständnisses. Dies beginnt schon da, wo nur die eine, die konstruktive Seite dieser causa zur Geltung gebracht wird. Sie ist jedoch in gleicher Weise und sogar gleichzeitig der große Wirklichkeitsvernichter. Das Verb „vernichten“ ist dabei weniger im Sinne destruktiver Konsequenzen gemeint, weniger im Sinne von Zerstörungskräften – Atombomben, explodierenden Substanzen, unkontrollierbar gewordenen chemischen Prozessen. All das ist nämlich dem Bereich „Wirkung“ des Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs zuzuordnen, der mit Kausalität immer mit gemeint ist. Sondern viel grundsätzlicher: Immer und grundsätzlich, wo die causa efficiens ihr Werk verrichtet, vernichtet sie in gleicher Weise, wie sie bildet. Die Wirkung vernichtet die Ursache, die verursachenden Bedingungen. Dabei spezifizieren die verschiedenen Wirkkräfte (mechanische, elektromagnetische etc.), auf welche Weise jeweils die Wirklichkeit vernichtet wird. Dieser Prozess ist in seiner Summe nicht von der verfließenden Zeit zu unterscheiden. Vernichtet wird deshalb letztlich immer die Gegenwart. Eine neue Wirklichkeit, eine neue Gegenwart rückt an ihre Stelle. Dieses permanente Vernichten ist es, das letztlich verhindert, dass Bewusstsein zu sich kommen kann, denn dazu müsste das Vergangene bewahrt werden.

Die causa efficiens scheint ein exzellentes Instrumentarium bereit zu stellen, wenn man das Ergebnis materieller Prozesse rechnerisch prognostizieren will. Auf der anderen Seite scheint sie völlig zu versagen, wenn nach dem Geist gefragt wird. Ein häufig zu hörender Vorschlag besteht darin, dass das Hirn in der Lage ist, das Nacheinander eines Prozesses in ein aktuelles Jetzt hineinzuholen. Dies wäre für ein naturalistisches Weltverständnis sehr entlastend, denn das Aufbrechen des Zeitstrahls reißt eine Flanke dieses Wirklichkeitsverständnisses auf. Das ganze neuzeitliche Wirklichkeitsverständnis basiert auf dem konsequenten Nacheinander aller Prozessschritte. Diese folgen dem Zeitstrahl, der wieder parallel zur Zunahme der Entropie verläuft. Und da die Wirklichkeit exklusiv als gigantische Überlagerung von Prozessen verstanden wird, bleibt keine Lücke für eine Ausdehnung der Gegenwart. Diese hätte zur Folge, dass die überlappenden Anteile der Ausdehnung über den Jetzt-Punkt hinaus in einem völlig ungeklärten Verhältnis zu den energetisch geschlossenen materiellen Prozessen stünde, so dass letztlich sogar der Energieerhaltungssatz in Frage gestellt würde – wahrlich ein Skandal! Dieser Skandal ist aber nicht mehr zu vertuschen, seit Husserl mit seinen Untersuchungen zum Zeitbewusstsein eine Lawine losgetreten hat, die seitdem zu Tal donnert und dort noch keineswegs angekommen ist.


Ein Beispiel verdeutlicht das Skandalon: Hört ein Freund der Kirchenmusik das Sanctus aus der h-moll-Messe Bachs, dann lösen die vielstimmigen Melodien der Chöre ein reales Gefühl in ihm aus. Dieses Gefühl existierte nicht, gäbe es die ausgedehnte Gegenwart nicht, die überhaupt erst Melodien hervortreten lässt. Erst diese Extension also schafft die Grundlage für eine Reaktion des Hörers, die letztlich durchaus körperlich sein wird: Eine erhöhte Endorphinausschüttung ist nachweisbar, die Pupillen weiten sich, der Puls kann u.U. schneller gehen, oft ist auch die Muskulatur entspannt usw. All diese physischen Reaktionen sind kein Ergebnis einer reinen causa-efficiens-Welt: in der kommt nämlich die ausgedehnte Gegenwart nicht vor, die Voraussetzung des Melodieerlebens ist. Aus dieser Ausdehnung, nur aus dieser kommt der Impuls für diese physischen Reaktionen.


Die extendierte Gegenwart folgt nun allerdings anderen Regeln als denen der causa-efficiens-Welt, Regeln, über die wir wahrscheinlich noch viel zu wenig nachgedacht haben. Hier tut sich die prinzipielle Lücke auf, die der Geist ins Gewebe der materiellen Welt reißt. Sie ist mit den Instrumenten dieser Welt nicht zu schließen. Das ist ein überaus starkes Argument gegen den Determinismus und den Naturalismus.

Gehen wir systematisch vor, um jetzt zu klären, ob diese ausgedehnte Gegenwart nur einer Illusion ist oder tatsächlich existiert, ob sich qua Erinnerungsfähigkeit zeitlich gedehnte Ereignisse auf einen Jetztpunkt umlegen lassen, in dem allein die aktuelle Realität zu finden ist, oder ob eben die Extension von Gegenwart zu Recht Realität beansprucht.

Man kann auf dem Klavier eine Melodie spielen oder Töne gemeinsam anschlagen, wenn man z.B. Akkorde zu Gehör bringt. Wenn ich die im Falle der Melodie nacheinander angeschlagenen Töne gleichzeitig anschlage, ergibt das vielleicht ein Cluster, vielleicht einen Akkord, vielleicht noch ein anderes Tonereignis – je nachdem, wie die Melodie verlief. Kann man nun aus dem Akkord oder dem Cluster die ursprüngliche Melodie heraushören? Wohl kaum! Wie sollte auch aus dem Wirrwarr gemeinsam angeschlagener Töne die in der Melodie vorgegebene Reihenfolge der Töne zu ermitteln sein? Woran erkenne ich, dass ein Ton mehrfach vorkam? Wie sollten darüber hinaus Pausen, Längen der Töne, kurz: das ganze Timing der Melodie erfasst werden können?

So also stellt sich die Sache im Hirn dar. Alle in einem bestimmten Moment t0 erregten, feuernden Neuronen entsprechend den Tasten, die beim Cluster gleichzeitig angeschlagen werden. Mögen einige davon im Frontalhirn sitzen, andere im auditiven Zentrum – zusammen repräsentieren sie die Töne einer Melodie, die eben erklingt bzw. erklang.

Natürlich könnte man versucht sein, die Aufspaltung des Melodieempfindens auf verschiedene Hirnregionen als Alternative zur Clusterbildung zu verstehen. Da die sich folgenden Töne an verschiedenen Stellen des Hirns repräsentiert werden, überlagern sie sich nicht und sind sauber getrennt. Bloß dass damit die ganzen Nachteile des Raumkonzeptes zur Geltung kommen: was räumlich getrennt ist, das ist - - getrennt. In dem Moment, wo ich es zusammenbringen will, wo ich also die Melodie als Melodie erfassen will, muss die Trennung aufgehoben werden und das verflixte Clusterproblem tritt wieder auf.

Neurologen konzedieren, dass das so genannte Bindungsproblem bis heute nicht gelöst ist. Darunter versteht man die Problemanzeige, dass die Einheit jedes mentalen Phänomens auf eine Weise zustande kommt, die sich bis heute den Hirnforschern weitgehend entzieht. Auch bei der Melodiewahrnehmung treffen wir auf dieses leidige Problem: Wie verbindet sich das über verschiedene Hirnstrukturen verteilte Nebeneinander der Ton-Repräsentate zur Einheit des Melodieerlebens? Darauf gibt es keine überzeugende Antwort.

Wäre nicht für dieses Vergegenwärtigen der Melodie aus einem Cluster wiederum ein Extendieren des in einen Moment hineingezwängten Nacheinanders der Töne zwingend nötig, so dass also gar nichts gewonnen wäre? Immer noch bedürfte es in der Welt des Bewusstseins eines ausgedehnten, das Nacheinander überwindenden Zeitfenster. Und wieder stellt sich die Frage, wie dieses neuronal realisiert werden kann. Nach herrschendem Verständnis vollziehen sich die Prozesse im Hirn nämlich konsequent als geordneter Prozess, der nur das Nacheinander kennt – ein unendlicher Regress.

Was im materiellen Gehirn getrennt ist, immer getrennt bleiben wird, das fügt sich auf nicht-materielle Weise im Geiste zusammen. Was in Axonen oder an Synapsen elektrochemisch agiert und reagiert, bleibt Elektrochemie und wird nie etwas anderes sein als Elektrochemie. Aber was in uns als einheitlicher Bewusstseinszustand auftaucht, verdankt sich einer vollkommen anderen Weise der Verbindung als den verschiedenen physikalischen (prozesshaften) Grundkräften. Diese Bindung, die Ganzheit erst möglich macht, die uns Melodien hören und die Vögel fliegen sehen lässt, hat ihre Herkunft in der Berührung, in der Durchdringung, in der Vereinigung zweier Zeitdimensionen.


Wenn in der Newtonschen Raumzeit der Begriff Kausalität dazu dient, Zusammenhänge zu begründen, so sind diese Zusammenhänge keine soliden: es sind in gleicher Weise Vernichtungsaktionen. Ich kann kausal die Entstehung von etwas erklären, aber was da entstanden ist, lässt sich nie sichern, darf nie zum Sein werden, muss immer im Werdemodus bleiben. Genau das ist in der paradoxen Welt zweier Zeitdimensionen anders: da muss nichts mehr vernichtet werden, weil das Bewusstsein aus dem Fluss des reinen Werdens auftaucht und das Sein Atem schöpfen kann.



Teil IV: Seltsame Möbel in seltsamen Gebäuden: Systematische Erfassung von Dimensionswelten


Mathematische Dimensionen und die Koordinatensysteme, die sie aufspannen, sind etwas Abstraktes. Sobald man sie „möbliert“, sobald man über Objekte redet, an denen man sie nachweisen kann, wird es anschaulich. Im Folgenden will ich verschiedene teils fiktive, teils reale Dimensionswelten untersuchen, die hier als Gebäude vorgestellt werden, in denen jeweils ganz spezielle Möbel untergebracht werden können. R... sind Welten, die räumliche Dimensionen aufweisen, T.. Welten mit zeitlichen Dimensionen. R1,2,3T1 entspricht dann der Newtonschen Raumzeit. 

Die Möbel in R1 und R1,2 – einem extremen Flachbau – sind etwas schlicht. Dass die Möblierung in einer Flächenwelt nicht gut gelingen kann, liegt daran, dass uns reine Flächenwesen nicht bekannt sind. Es sei denn, man bestückt Flächenland mit geometrischen Figuren, wie das Abbott getan hat. Reale Flächen sind nach unserem Verständnis nur Abstraktionen von Räumen. Ohne den Zusammenhang mit einem Raum können wir ihnen höchstens eine Existenz als Theorieelement, als geometrisches Gebilde zubilligen.

In der um eine Raumdimension erweiterten Welt (R1,2,3) stoßen wir bereits auf Körper – und die gibt es zweifellos in unserer Realität. Newtons solides Backsteinhaus (andere nennen es geringschätzig eine Kiste) und seine im Bauhausstil ausgeführten Möblierung sind historisch gebührend gefeiert worden.

Genau genommen stoßen wir Menschen nur auf das Backsteinhaus und seine Möbel, wenn sie in unserer Zeit auftauchen – also in einer Welt R1,2,3T1. Der Wirklichkeit wachsen jetzt viele Möglichkeiten zu: Körper, Massen, Kräfte usw. lassen sich in ihr ausmachen und können sich entfalten. Diese Welt explodiert geradezu vor neuen Elementen, die sich daraus bilden lassen. Galaxien und Kristalle, Wolken und Geysire gehören in gleicher Weise zu ihr. Ein gewaltiges Möbelsammelsurium.

Bevor ich auf das letzte Gebäude eingehe, das R1,2,3T1,2 entspricht, ist es vielleicht sinnvoll, über das Verhältnis der Dimensionen zu den Objekten, an denen man sie konstatiert, nachzudenken. Normalerweise werden Häuser gebaut, bevor man Möbel in sie hineinträgt. Ob es bei dem Dimensionsgebäude, das ich mit Ihnen gleich besichtigen möchte, auch so ist, ist allerdings fraglich. Man kann durchaus die These wagen, dass erst die Möbel das Dimensionsgebäude zutage treten lassen. Ja, es ist bei diesem virtuellen Gebäude durchaus fraglich, ob es das Gebäude ohne die Möbel überhaupt gibt. Die Dimensionen der Zeit sind nicht ohne Zeit-Gebilde nachweisbar. Nur am Bewusstsein, an mentalen Zuständen kann man die zweite Zeitdimension packen. Sie lässt sich nicht für sich studieren, sozusagen leer, für sich allein kennen lernen.

Das ist beim Raum auch nicht anders. Newtons Vorstellung, dass es Raum und Zeit auch als völlig leere Entitäten gäbe – denen er sogar eine Natur zubilligt –, als reines mathematisches und gleichzeitig natürliches Koordinatensystem, gilt heute unter Physikern als widerlegt. Nicht mehr der Raum ist der Bezugsrahmen für die Materie, sondern die Geschwindigkeit des Lichts stellt diese letzte Bezugsgröße her, der Raum bzw. alle seine Körper sind von der Geschwindigkeit abhängig, mit der sie sich aneinander vorbei bewegen. Je nach Geschwindigkeit und Perspektive spannt sich auch der Raum unterschiedlich auf – bis er bei Lichtgeschwindigkeit ganz verschwindet. Photonen sind je nach Perspektive (ihrer eigenen oder der Außenperspektive) zwei- oder vierdimensional. Die Lichtgeschwindigkeit verändert die Dimensionsmächtigkeit.

Beim Geist spielt die Geschwindigkeit, mit der sich sein Inhaber bewegt, nun gerade keine Rolle. Und selbst die elektrischen Vorgänge im Hirn sind weit unterhalb der Lichtgeschwindigkeit angesiedelt. Umgekehrt verlangt der Geist aber eine zusätzliche Zeitdimension. Im Einstein-Pavillon lassen sich also zwar zwei- bis vierdimensionale Gebilde unterbringen, aber eben doch nicht alles, wenn dies auch Naturalisten zu behaupten pflegen. Deshalb muss der Wirklichkeit noch ein anderes Dimensionsgebäude unterstellt werden. Husserls Architektur gibt zum ersten Mal den mentalen Phänomenen eine Aufenthaltsgenehmigung. Sie sind es mindestens, die sein Asylheim bewohnen – das Wort „bewohnen“ ist eher am Platz, denn im Gegensatz zu Newtons Möbeln leben die Bewohner des Heimes des Phänomenologen, sind zumindest vorübergehend Gäste des Hauses.


Kommen wir jetzt also zur Welt T1,2: Was sind die Objekte, die in dieser zweidimensionalen Zeitwelt auftauchen? Der Prozess (t1) selber entspricht der Abszisse. Die Ordinate entspricht der Ausdehnung der Gegenwart (t2). Aber die Elemente in dieser Welt sind damit noch nicht beschrieben. Es müssen solche sein, die die beiden Dimensionsmerkmale haben – und das sind tatsächlich alle mentalen Phänomene: das ist jetzt reinster Husserl, auch wenn der Begriff der Dimension selber bei ihm nur vereinzelt auftaucht. Eine Melodie entfaltet sich entlang der t1-Achse und taucht nur im Bewusstsein auf, weil sie auch in der t2-Achse eine gewisse Ausdehnung hat. Nur so können die Töne ganzheitlich zusammengehalten werden, entsteht die Melodie als ganzheitliches Gebilde.

Die Schwierigkeit besteht darin, dass diese reine Zeitwelt in irgendeiner Beziehung zur reinen Raumwelt R1,2,3 stehen muss. Wahrscheinlich muss man immer die besondere Beziehung zwischen T1,2 – die wir jetzt Husserls Welt nennen wollen – und der reinen Raumwelt beachten.

So wie ein Körper flach oder dick, lang oder rund sein kann, so gibt es in Husserls Welt auch verschiedene Formen, tauchen Elemente der anderen Welten auf verschiedene Weise in ihr auf: 

- rein physische Objekte, reine Körper sind zu 100 % dem Zeitfluss (der t1-Achse) und damit der Entropie zugeordnet. In der reinen Zeitwelt T1,2 erscheinen sie absolut dünn, ja: streckenförmig. Sie berühren diese Welt bloß.

- Lebewesen sind diesem Zeitfluss fast gänzlich ausgeliefert, aber sie partizipieren bereits an der zweiten Zeitdimension, die sie nach meiner Überzeugung erst lebendig macht: sie tauchen ein wenig in die zweite Zeitdimension ein, ihre „Tauchtiefe“ liegt aber nur im Sekundenbereich. Sie gehören also zu den bevorzugten Objekten unserer R-T-Welt.

Dies deckt sich nicht mit der landläufigen Vorstellung, nach der zuerst nur unbelebte Materie auf unserem Planeten existierte, dann das Leben auftauchte und in einem letzten Aufschwung der Natur dieses mit Bewusstsein ausgestattet wurde. Typischer Weise wird dabei Leben exklusiv durch Prozesse definiert, also durch Partizipation an der ersten Zeitdimension T1: durch Energie- und Stoffaustausch, Wachstum, Fortpflanzung, die Fähigkeit zur Reaktion auf Veränderungen der Umwelt sowie durch Kommunikationsprozesse. Mir scheint die Reduktion des Lebens auf Prozesse problematisch. Gerade die Ganzheitlichkeit, die Leben auf verschiedenen Ebenen vielfältig mit sich bringt, übersteigt alles Prozessuale und lässt sich vermutlich nur durch Partizipation an einer zweiten Zeitdimension erklären. Eher scheint es mir wahrscheinlich, dass alle Lebewesen bis zum Einzeller hinunter bereits von schlichten mentalen Phänomenen durchdrungen sind – und deshalb auch zu den zweidimensionalen Zeitelementen gehören.

Nur eine Beobachtung soll hier für diese These herangezogen werden: Andreas Weber erzählt in seinem Buch Alles fühlt (Berlin 2007), dass er als Student bei der Erforschung von Pantoffeltierchen beigebracht bekam, wie man die Einzeller dazu bringt, ihre Bewegungen zu verlangsamen bzw. sogar einzustellen: zunächst wird in den berüchtigten Wassertropfen voller Infusorien, speziell Pantoffeltierchen, der unterm Mikroskop auf einer Glasplatte perlt, eine Flüssigkeit („Proto-Slow“) eingebracht, die die Bewegungen der Tiere verlangsamt. Wenn dann aus einer Phiole ein wenig des überaus toxischen Pikrins zugesetzt wird, beobachtet Weber unterm Mikroskop Folgendes: „Wie eine Armee, die sich vor einem unsichtbaren Feind in Sicherheit zu bringen versucht, drehte die Herde der Pantoffeln vor der wandernden Säurefront ab und versuchte zu entkommen. Vergeblich. Langsam waren die Einzeller, so furchtbar langsam in ihrem Proto-Slow. Es war eine Flucht in Zeitlupe. Einer nach dem anderen wurde von der Säure eingeholt. Und wenn es sie traf, krümmten sich die Wesen zusammen und wanden sich hin und her, als würde ihr Körper von einer glühenden Flüssigkeit verbrüht. (...) Dann stießen die Pantoffeltierchen all ihre Körperanhänge ab und blieben als gestrandete Wracks liegen.“  Und hinter diesen Beobachtungen sollen sich keine mentalen Phänomene wie Angst und Schmerz verbergen? Es scheint eher so, als ob Gottfried Benn in seinem berühmten Gedicht Gesänge 1 noch zu optimistisch war, wenn er 1913 schrieb: „O daß wir unsere Ururahnen wären. / Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor. / Leben und Tod, Befruchten und Gebären / glitte aus unseren stummen Säften vor.

Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel, / vom Wind Geformtes und nach unten schwer. / Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel / wäre zu weit und litte schon zu sehr.“

Webers Beobachtung ist nicht nur ein ganz starkes Argument dafür, dass in allem Lebendigen bereits Mentales zu finden sein dürfte – und die Pantoffeltierforschung hält dafür noch mehr Überraschungen parat. Sondern sie stützt auch die Vermutung, dass den Tieren ein begrenzter Vorgriff auf die Zukunft möglich ist, sonst würden sie nicht auf die Säurefront reagieren, die doch erst auf sie zukommt – und diese Zukunftsahnung oder –erwartung stützt die These von der zweiten Zeitdimension.

- Nach dieser Betrachtungsweise interagiert bei lebendigen Wesen der räumliche Körper mit beiden Zeitdimensionen. Husserls Asylheim und der Backsteinblock Newtons sind irgendwie durch Gänge oder Brücken miteinander verbunden. Wenn diese Interaktion auf bis heute nicht erforschte Weise reduziert ist, entspricht das dem Geist. Der Kontakt der Wesen aus Husserls Zeitwelt (T1,2) zur Körperwelt (R1,2,3) ist dann irgendwie gelockert. Geistige Phänomene sind sozusagen mehr Zeit als Körper. Oder haben eine gewisse Souveränität dem Körper gegenüber. Die genauere Beziehung von Raum- bzw. Körperdimensionen und Zeitdimensionen bei den verschiedenen mentalen Phänomenen scheint mir eines der großen Rätsel unserer Welt. Das werden wir hier nicht lösen. Es hat hier allerdings eine neue Formulierung gefunden. Der Materialismus geht von einer Welt R1,2,3T1 aus. Mir scheint eher, dass die Beziehung von R1,2,3  und T1,2 das Problem ist.

Wenn man sich schon so weit auf Husserls Gedanken eingelassen hat, dann wächst vielleicht auch der Mut, ein noch viel umgreifenderes Thema anzugehen: Es hat sich in Europa eingebürgert, Dimensionsfragen in einer gewissen Reihenfolge anzugehen: Kreuzsolide und verlässlich ist erst mal der Raum. Zu ihm tritt dann sehr schnell die Zeit als Kompagnon hinzu. Wer die Spekulation verabscheut, wer wissenschaftlich sauber oder intellektuell besonders redlich sein will, der wird also erst mal räumliche Aspekte eines Phänomens erfassen. Zeit ist dann die Skala, auf der Veränderungen der entsprechenden räumlichen Struktur eingetragen werden können. Aber was ist, wenn es umgekehrt ist? Vorstellbar wäre nämlich auch folgendes: Priorität haben die beiden zeitlichen Koordinaten. Zu ihnen tritt der Raum hinzu. Und schon ist eine Wirklichkeitsauffassung da, nach der die geheimnisvollen Bezüge eines zweidimensionalen Zeitgefüges strukturierend wirken und prägend für die Wirklichkeit sind. Die Romantiker hätten sich mit ihrer Vorstellung der „unendlichen Agilität des Geistes“ sicherlich auf die Seite dieser Wirklichkeitsinterpretation geschlagen. Die Welt wäre dann nichts als eine daraus abgeleitete Versteinerung. Materialisten werden hingegen den Raum zum Ausgangspunkt ihrer Weltinterpretation machen.

Wir können die zweidimensionale Zeit nur am Zipfel greifen: sie offenbart sich uns nur in der Struktur des Bewusstseins, andere zeitlich zweidimensionale Gebilde kennen wir nicht – auch dem Lebendigen außer uns können wir sie nur unterstellen. Die um eine Dimension erweiterte Raumzeit (R1,2,3 - T1,2) muss also mindestens mentale Phänomene als Elemente enthalten. Aber dieser Gedanke lässt sich auch umdrehen: da unsere Welt mentale Phänomene kennt, ist sie mindestens fünfdimensional – ist sie eben vom Typ  R1,2,3T1,2.

- Schließlich gibt es eine Durchdringung der beiden Zeitdimensionsarten, die den Theologen interessieren müsste: Schon bei Augustinus wird sie reflektiert. Hier tritt nun der besondere Fall ein, dass das Möbel – sozusagen die Mutter aller Möbelstücke – das Haus sprengt. Die Metapher vom Dimensionshaus und seinen Möbeln ist an ihre Grenze gestoßen. Denn Augustinus redet von Gott. Gott, der diese zweite Zeitdimension T2 voll ausschöpft, nicht nur im Sekundenumfang, der also in gleicher Weise in der vollen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit west, hebt jenes Merkmal des Zeitflusses t1 auf, das diesen so irdisch macht: die Vergänglichkeit, der keiner in dieser Welt entfliehen kann, die Entropie. Mit der vollen Tiefe der Gleichzeitigkeit hat sich der Prozesscharakter gewandelt. Das Vergehen verliert den Charakter des Endgültigen.

Gemeint ist der Herr der Zeit, Gott, der in allen Zeiten präsent und damit natürlich unsterblich ist. Ja, noch mehr: da dieses „Element“ die Agilität des Geistes in vollem Umfang besitzt, ist sein Geist wie auch seine Gefühlswelt gegenüber dem tierischen oder menschlichen Pendant schier unendlich dichter. Übrigens hat Husserl dies genau so gesehen und auch notiert. (Vgl. Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins Nr. 15: „Für ihn <für Gott> gibt es kein Vergangen, Gegenwärtig und Künftig. Aber <auch> für ihn gibt es relativ zu jedem Punkt ein Vergangen, Gegenwärtig, Künftig. Die Zeit ist die Form des unendlichen Bewußtseins, als unendliche adäquate Wahrnehmungsreihe. Vom Stande eines bestimmten Jetzt a----j----b ist a vergangen, in Relation zu a ist j künftig, ebenso b. Das göttliche Bewußtsein ist das ideale Korrelat der objektiven Zeit und der objektiven Welt und Weltentwicklung.“) Es ist vielleicht erlaubt, darauf hinzuweisen, dass Husserl sich 1887 – wenige Jahre vor seinen Zeitstudien – evangelisch taufen ließ. 

Kant würde sich in der Nähe dieses Gottes sicher wohl fühlen, denn das Denken erstirbt gerade nicht in einem Sein, das das Werden vollständig in sich aufgenommen hat, sondern wird sogar unendlich potenziert. Sein Vorwurf gegenüber der Ewigkeit beruht auf einer grotesken Verkennung: die Reflexionsfähigkeit wird durch Partizipation an göttlicher Ewigkeit nicht etwa gestoppt, sondern unendlich erweitert.


Dass uns die Zweidimensionalität unseres Bewusstseins nicht auffällt, hängt mit der oben schon festgestellten Tatsache zusammen, dass wir für die anschauliche Vergegenwärtigung eines n-dimensionalen Gebildes selber (n+1)-dimensionale Wesen sein müssten. Dass uns also die zweidimensionale Struktur unserer Bewusstseinszeit nicht auffällt, liegt daran, dass wir offensichtlich keine Wesen sind, die von einer dreidimensionalen Zeitstruktur geprägt sind. Der Flachländer bei Abbott nimmt seine Flächigkeit nicht wahr. Er kann nicht sehen, was in seinem Magen ist. Seine Mitbewohner sind für ihn nur sehr reduziert als Striche – eindimensional. Und analog bildet sich der heutige Mensch ein, einzig auf einem Zeitfluss mitzureisen, der stetig nur in Richtung eines unbekannten Meeres fließt. Dass er gleichzeitig in eine weitere Dimension von Zeit verstrickt ist, das überfordert den unphilosophischen Zeitgenossen. Husserls Analyse legt jedoch genau das nahe. Gemäß seiner Analyse muss das Bewusstsein, um in Erscheinung zu treten, Einzelmomente verbinden, die der reine Zeitfluss nicht verbinden kann. Und dafür steht ein kleines Intervall zur Verfügung – dafür reicht eine bescheidene Portion extendierter Gleichzeitigkeit.



Drei Schlussbetrachtungen:


1. Nicht Erstarrung, sondern Lebendigkeit ist der Ewigkeit wesentlich

Jetzt kann endlich der Grundirrtum des Nachdenkens über Sein und Werden, dem seit Beginn der Neuzeit immer mehr Intellektuelle aufgesessen sind, sauber herausgestellt werden: Die Vorstellung, im Sein herrsche sozusagen ein erstarrtes Alles-auf-einmal, ist falsch. Dann wäre das Sein in der Tat ein lebloses, zu Tode gekommenes bzw. nie geborenes Gebilde. Aber diese Vorstellung trifft gerade in keiner Weise zu, wenn das Sein das Werden umfasst: Jede Phase der Wirklichkeit ist dann nämlich mit jeder anderen Phase permanent verknüpft, reagiert auf sie, verändert sie, wird durch sie verändert und durchdrungen. Seiendes Werden, werdendes Sein können wir uns kaum vorstellen – aber das ist kein Argument gegen solche Existenz. Dies ins Ganze gesteigert zu denken scheint mir nicht unlogisch.

Rein kausale Abläufe eliminieren sich andauernd selber. Ganzheitliche Zusammenhänge, wie wir sie erleben, sind hingegen partielle Verklumpungen solcher nicht-kausalen Verknüpfungen. Das Eliminieren wird in einer zweidimensionalen Zeitstruktur durch diese Verklumpungen verhindert. Unsere mentalen Erfahrungen sind solche Verklumpungen, bilden partielle Ganzheitlichkeit aus.

Das Sein als Ganzes, m.a.W. göttliches Sein explodiert dann vor Lebendigkeit, vor den unendlichen Möglichkeiten, die es birgt. Nichts kann lebendiger sein als dieses Sein, das die Lebendigkeit des menschlichen Geistes um Größenordnung übertrifft. Wir Menschen können, so lange wir leben, in jenem kleinen Maßstab, für den unsere extendierte Gegenwart die Grenze absteckt, Bindungen bereits in hohem Maße erfahren, Ganzheit erleben. Wie sehr würde sich unser Geist erweitern, wenn dies in einem noch ganz anderen Maße möglich wäre? Das ist die eschatologische Zukunftshoffnung, unter Dimensionsgesichtspunkten ausformuliert.


2. Ignoramus Ignorabimus

Mit der Aufdeckung der zeitlichen Struktur mentaler Phänomene ist Husserl ein großer Erkenntnisfortschritt gelungen. Und mein Versuch, dieser Deutung der  Bewusstseinsstruktur eine Dimensionsinterpretation zu geben, ist für manchen hoffentlich eine interessante Veranschaulichung und lockert das verkrampfte Verhältnis von religiöser Weltdeutung und rein naturalistischer etwas auf.

Aber natürlich bleiben Fragen im Raum stehen. Wie Newton sagte: „In der Wissenschaft gleichen wir nur den Kindern, die am Rande des Wissens hie und da einen Kiesel aufheben, während sich der weite Ozean des Unbekannten vor unseren Augen erstreckt.“ Eine der wichtigsten offenen Fragen: die Beziehung der räumlichen Seiten des Wirklichen zu diesen mentalen Phänomenen ist ungeklärt. Man könnte auch formulieren: das Verhältnis von Körperwelt und geistiger ist noch lange nicht bestimmt. Es ist eher schwieriger geworden: denn jetzt geht es nicht mehr nur um eine Zuordnung, sondern auch noch darum, die komplizierte gedoppelte Zeitordnung bei dieser Zuordnung zu berücksichtigen.

Damit hängt die zweite offene Frage zusammen: Was ist der Mensch nun eigentlich? Ein drei-, vier- oder fünfdimensionales Wesen? Unsere Körper sind dreidimensional, bewegen sich dabei in der Prozesszeit. Der Geist hingegen gehört einer zweidimensionalen Zeitstruktur an. Solange wir nicht wissen, wie diese beiden Strukturen miteinander in Kontakt treten bzw. verbunden sind, können wir uns nur zurückhalten, wenn wir uns ein Bild von unseresgleichen machen wollen. Vielleicht werden wir es ja nie wissen.

Sollte die Agilität der Subjekte/Objekte der zweidimensionalen Zeitstruktur in einem engen Zusammenhang mit der Körperwelt stehen, wirft das eine brisante neue Frage auf: Müsste dann nicht auch ein Umbau der Vergangenheit möglich sein? Bleibt die Vergangenheit dann das Endgültige? Oder können wir auf eine Heilung all der Wunden der Geschichte und unseres Lebens hoffen?


3. Die wiedergewonnene Würde


Alle Religionen verehren die Auserwählten, denen es gestattet wird, hinter den Vorhang zu sehen, der den jedermann zugänglichen Bereich unserer Wirklichkeit von den Tiefen trennt, in denen die Wirklichkeit letztlich verwurzelt ist. Selbst in Platons Höhlengleichnis gibt es so einen Auserwählten: Ihm werden als einzigem der angeschmiedeten Höhlenbewohner die Ketten abgenommen – er darf das ganze Arrangement erkunden, das zu der Illusion führt, die Schatten an der Felsenwand seien die Wirklichkeit. Dieser Ausflug von Platons Höhlenmensch ist vergleichsweise bescheiden gegenüber dem, was z.B. der Prophet Mohammed zu sehen bekommt, nachdem er vom Tempelberg in Jerusalem aus zu seiner Himmelsreise aufgebrochen ist. Mystiker, manchmal aber auch Künstler aller Religionen, Völker und Kulturkreise berichten meist zögernd von solchen Eröffnungen, die ihnen plötzlich und unerwartet die Wirklichkeit in einem ganz anderen Lichte erscheinen ließen. Pascal gehört genau so zu ihnen wie Hölderlin, Dag Hammarskjöld, der zweite Generalsekretär der Vereinigten Nationen, hat seinem Tagebuch solche Geheimnisse anvertraut und viele der Mönche auf dem Berg Athos sind durchdrungen von solchen Gottesbegegnungen.

Es gehört zu den größten Infamien der Neuzeit, all diese Erlebnisse pauschal als „Hirngespinste“, wie man früher zu sagen pflegte, oder als „Ausnahme- bzw. Fehlfunktionen neuronaler Prozesse“ – das wäre die zeitgenössische Ausdrucksweise – abzutun. Belehrt werden in gleicher Weise Menschen mit Nahtoderfahrungen (die immerhin ein Drittel all derer, die dem Tode schon einmal sehr nahe gekommen sind, kennen) wie solche, die Träume oder Ahnungen von zukünftigen Ereignissen zu haben meinen.

All diese Berichte über mystische Erlebnisse, Prophezeiungen, Visionen, Seinseröffnungen aller Art haben eines gemeinsam: sie sind, wenn man ihnen Wahrheit zugesteht,  nicht unterzubringen in einem naturalistischen Wirklichkeitsverständnis, das alle Phänomene in Newtons Kiste (R1,2,3T1) einsortieren zu können meint. Sollte diese Kiste zu gering dimensioniert sein, sollte man zeigen können, dass bestimmte nachweislich existente Phänomene in dieser Kiste prinzipiell nicht unterzubringen sind, fällt das naturalistische Versprechen in sich zusammen. Dazu ist es gar nicht nötig, Erlebnisse wie die oben genannten „erklären“ zu können, was ohnehin ein lächerliches, letztlich esoterisches Unterfangen wäre. Aber allein schon der Unterschied ist gewaltig

- zwischen einem Weltbild, das definitiv all diesen Phänomenen keinen Platz zuweisen will, weil sie seinen Statuten widersprechen,

- und einem Weltbild, das – sei es auch nur an einer Stelle – plausibel machen kann, warum sogar einzelne solcher Phänomene, die auch von Naturalisten anerkannt sind, in einer R1,2,3T1- Welt nicht unterzubringen sind. Dann nämlich ist der Deckel von Newtons Kiste wieder aufgeklappt.


Der Nachweis, dass Bewusstsein ohne eine zweite Zeitdimension nicht vorstellbar ist, reißt eine Flanke der naturalistischen Titanic so radikal auf, dass auch geschlossene Schotten den Untergang des Dampfers nicht mehr abwenden können. Für diesen Nachweis hat Husserl die entscheidenden Grundlagen gelegt. Das Schiff des Naturalismus beginnt, aufgeschlitzt von seiner Analyse, zu sinken. Aber die Party an Deck geht weiter – die Gäste wollen ihren Untergang noch nicht wahr haben. Im Gegenteil, die Festredner überschlagen sich in immer verwegeneren Theorien, warum gerade ihre Weltsicht kurz vor der endgültigen Machtübernahme im Ideenreich stehen soll. Eine beliebte Strategie ist es, all die Phänomene, die dem Naturalisten bisher sperrig erschienen, als Illusion zu entlarven. Das behauptet z.B. der deutsche Philosoph Thomas Metzinger bezüglich des Bewusstseins und des Ichs, während die Bordkapelle schon nasse Füße bekommt.

Es ist für mich und meinesgleichen natürlich einfacher, die Unzulänglichkeiten des Naturalismus aufzudecken, als selber eine Antwort auf die großen Rätsel des Daseins vorzuschlagen. Deshalb soll am Ende dieses Aufsatzes trotz der Erkenntnis, dass die Welt unvollständig beschrieben wird, wenn man ihr die zweite Zeitdimension vorenthält, die Größe dieser Rätsel betont werden:

Wir wissen nicht, warum die Linearität der Zeit im Bewusstsein sich öffnet, wir wissen genau so wenig, warum uns Normalsterblichen dafür nur Sekunden oder Sekundenbruchteile zur Verfügung stehen, und wir wissen auch nicht, wie innerhalb der R1,2,3T1,2-Welt das Verhältnis der räumlichen zu den zeitlichen Dimensionen ausgestaltet ist. Deterministisch allerdings kann es kaum noch sein, insofern mit der zweiten Zeitdimension der Wirkungsbereich der causa efficiens überschritten wird.

Es bleibt Sache des Gläubigen, sich an Berichten von Prophezeiungen, Visionen oder mystischen Erlebnissen zu orientieren. Aber da die Wirklichkeit sich nicht durch die sechs Seitenbretter der Kiste Newtons begrenzen lässt, ist der Phantasie wie dem Glauben wieder die Würde zurückgegeben, die ihm der Naturalismus abspricht.

Es ist und bleibt spekulativ, wenn wir einem Menschen, der als Prophet auftritt, zugestehen, dass er  in dem Moment, in dem er die Prophezeiung empfing, tiefer in den Bereich der zweiten Zeitdimension hineingelangte, als uns das gemeinhin zugestanden wird. Diese Spekulation widerspricht der Alltagserfahrung, aber keineswegs den Satzungen der R1,2,3T1,2-Welt. 

All das, was Menschen ahnen, was einige als Blicke in die Zukunft verstehen, scheint den Beigeschmack billiger Esoterik zu verlieren. Viele Berichte aus der religiösen Tradition gewinnen ihre Würde zurück. Dass dies nicht für all die medial präsenten Wahrsager gilt, die sich mit diesem Titel zu Unrecht schmücken, muss hoffentlich nicht betont werden. Die Grenze ist kaum zu ziehen, das erleichtert die Beurteilung nicht – aber ohne Prophezeiung fehlen dem christlichen Glauben zentrale Elemente, sogar das entscheidende. Die Zusage einer Auferstehung von den Toten – eindeutig ein Zukunftsereignis – gibt dem Glauben sein Zentrum, ohne sie verlöre er sein Herz.

Der vielleicht größte Gewinn aus den im Rahmen dieses Aufsatzes erörterten Problemen ist vermutlich der begründete Einwand gegen die neuzeitliche, speziell von Kant entwickelte Ewigkeitsverflachung. Der Zentralbegriff der Ewigkeit verliert jeden Glanz, wenn wir Kant folgen. Kant war sich zu sicher, zu wissen, was es bedeutet, wenn der Zeitfluss seine Macht verliert und versiegt. Er unterstellte einen Ewigkeitsbegriff, der sich an dem strikten Gegensatz zur verfließenden Zeit bildet: dem Stillstand. Dass Gleichzeitigkeit und Prozess, Sein und Werden jedoch in einem ganz anderen Zusammenhang als in so einem Gegensatz von Bewegung und Stillstand stehen, hielt er für unmöglich. Dem fällt der Begriff der Ewigkeit zum Opfer. Da dieser aber unverzichtbar für ein christliches Wirklichkeitsverständnis ist, leistet Kant der atheistischen Grundströmung der Neuzeit Vorschub. Jeder Christ ist dem gegenüber davon überzeugt, dass die Ewigkeit Gottes überreich an Wirklichkeit ist. Nicht das Nirwana erwartet uns, wenn wir dereinst das Zeitliche segnen, sondern dieses überreiche Leben. Das ist die große Hoffnung des christlichen Abendlandes. Auch heute noch.