DIE ERKENNTNISPARADOXIE DES SCIENTISMUS:

DER SCIENTIST KANN NICHTS MEHR FÜR „WAHR“ HALTEN.


Die folgenden Überlegungen beginnen mit einem Gedankengang aus Robert Spaemanns gemeinsam mit Reinhard Löw geschriebenem Buch: Natürliche Ziele. Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens. (Die im Text nicht weiter ausgewiesenen Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch.) In sehr gedrängter Form soll hier eines der zentralen Argumente dafür vorgetragen werden, warum ein reines Denken in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen jeder Erkenntnis den Boden entzieht.

Spaemann/Löw nehmen Darwinisten wie Dobzhansky („Nichts in der Biologie hat Sinn außer im Lichte der Evolution“) beim Wort, nämlich  sämtliche Phänomene des Lebendigen evolutionär deuten zu wollen, sprich: in ihrer Entstehung zu begreifen. Das muss dann natürlich auch für das Evolutionsprodukt „Mensch“ gelten und letztlich sogar für die Verhaltensweise bis hin zu einzelnen Gefühlen und Gedanken dieser Spezies. Als befriedigende Erklärung für alle menschlichen Phänomene gelten jeweils Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die gemeint sind, wenn von „kausalen“ Begründungen die Rede ist. Denn Darwin orientierte sich aus seiner antiteleologischen Einstellung heraus genauso wie alle seine Anhänger an dieser kausalen Begründungsweise: „Kausale Erklärungen sind für die antiteleologische Naturwissenschaft die einzig redlichen, ‚metaphysikfreien’ Erklärungen: dies gilt für die gesamte anorganische und organische Welt als erwiesen, nur die ‚kausale Determination im Verhalten des Forschers (und von Menschen generell) entzieht sich vorläufig noch unserer Analyse’ (K. Lorenz).“ (S. 200) Wenn die Naturwissenschaft diese Hürde eines Tages auch noch genommen haben wird, dann wird sich erweisen, dass sogar jeder Gedanke eines Menschen das Ergebnis von klassischer Kausalität ist.

Man könnte nun die ganze Kette des Lebendigen von den frühsten Formen bis hin zu dem von Lorenz genannten Verhalten des Forschers durchgehen und bei jedem Einzelschritt die Gültigkeit der Grundthese überprüfen, ob die Entstehung des jeweiligen Kettengliedes definitiv auf Kausalzusammenhängen beruht. Spaemann/Löw machen das nicht. Sie überlegen stattdessen, wohin uns das letztlich führt: Wir müssten uns dann nämlich fragen, welche Aussagekraft der Gedanke eines Evolutionsforschers – also sozusagen das letzte Glied in der Kette – noch haben könnte. Sie befürchten, dass der Anspruch der Evolutionstheorie auf irgendeine Wahrheit sich damit ins Aus manövriert hat:

„Gesetzt, das Programm (der darwinistischen Evolutionstheoretiker) wäre wahr, dann sind wir weder frei, es einzusehen, noch frei, es zu widerlegen. Wir sind nämlich überhaupt nicht frei. Wer die Evolutionstheorie vertritt, ist eben so determiniert, und wer nicht, der anders. Wenn zwei Wissenschaftler darüber streiten, dann handelt es sich darum, daß zwei Computer einander wechselseitig zu programmieren versuchen. Wer hier der erfolgreichere ist, hat mehr mit der Fähigkeit, sich durchzusetzen, als mit ‚Wahrheit’ zu tun. Wissenschaftliche Überzeugung kann von Rhetorik prinzipiell nicht unterschieden werden. Und Sie, verehrter Leser, lesen diesen Text ja nicht, geschweige denn begreifen ihn, sondern Ihr ratiomorpher Weltbildapparat simuliert Schwarzes auf Weißem: entweder ‚paßt’ das Simulierte zum bereits Determinierten Ihrer 81 Regelkreise, oder Ihre Überlebensmaschine [das ist natürlich unscharf: es klingt so, als hätten Sie eine Überlebensmaschine; dabei sind Sie eine] feuert das Schwarz auf Weiß Simulierte getrost in die Ecke...“  (S.214 –Anm: Der Begriff „Überlebensmaschine“ stammt von Richard Dawkins. Dieser vertritt die These, dass die Phänotypen der Lebewesen nur Überlebensmaschinen für die Produktion von Genen sind.)

Das ist die logische Falle, in die hereinfällt, wer sich in dem umfassenden Programm rein kausaler Determination verschreibt. In einer Welt, die nur aus dem Faktischen bestehen soll, lässt sich zwar vieles wahrnehmen, aber buchstäblich nichts erkennen. Selbst diese Mitteilung geht genau genommen schon zu weit, ist schon zuviel an Aussage. Wissenschaft kann so nicht betrieben werden: „Der Wahrheitsanspruch der Wissenschaft hängt daran, daß Wissenschaft selbst ein Handeln von Wissenschaftlern ist und nicht ein subjektloses Geschehen, das nur ein Element jener Naturgeschichte darstellt, über die sie fälschlich reden zu können glaubt.“ (S. 237) 

Die Argumentation von Spaemann/Löw ist keineswegs neu, sondern schon im 19. Jahrhundert vorbereitet und seitdem immer wieder vorgetragen worden – freilich ohne von den radikal der Kausalität verschriebenen Naturwissenschaftlern, auf die sie immer gemünzt ist und war, vernommen zu werden.

Der erste, der sie meines Wissens formulierte, war Friedrich Wilhelm Joseph Schelling – übrigens schon 1797 in seiner Schrift Ideen zu einer Philosophie der Natur. In der Einleitung zur Vorrede findet sich folgende Überlegung: „Allein es sei so, ich sei ein Ding, das selbst in der Reihe der Ursachen und Wirkungen mitbegriffen ist, ich selbst zusamt dem ganzen System meiner Vorstellungen ein bloßes Resultat der mannigfaltigen Einwirkungen, die auf mich von außen geschehen, kurz, ich sei selbst ein bloßes Werk des Mechanismus. Aber was im Mechanismus begriffen ist, kann nicht aus demselben heraustreten und fragen: wie ist dieses Ganze möglich geworden; hier, mitten in der Reihe der Erscheinungen hat ihm absolute Notwendigkeit seine Stelle angewiesen; verläßt es diese Stelle, so ist es nicht mehr dieses Wesen, man begreift nicht, wie noch irgend eine äußere Ursache auf dieses selbständige, in sich selbst ganze und vollendete Wesen einwirken kann.“ (Zitiert nach: F.W.J. Schelling, Ausgewählte Schriften. Hg. Manfred Frank, Frankfurt/Main 1985, S. 285 f.) Insofern dieses mechanisch gebildete Ich nicht fragen kann, wie dieses Ganze möglich geworden ist, hat es die Fähigkeit eingebüßt, letzte Wahrheitsfragen zu beantworten bzw. sinnvoll über sie zu reden.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel stellte fast parallel sehr ähnliche Überlegungen an, die Spaemann/Löw in ihrem Buch anschaulich darstellen.  Dieser deutsche Denker hat – noch grundsätzlicher als Schelling – bemerkt, dass es unmöglich ist, in einer Welt „reiner Objektivität“ auch nur minimalste Feststellungen zu treffen. Allein wer behauptet, in dieser Welt folge ein Zustand dem anderen, geht im Grunde zu weit: denn um das feststellen zu können, müsste ein Subjekt vorhanden sein, das diese Aufeinanderfolge konstatiert. „Es gibt in der Welt der reinen Objektivität weder Hier noch Dort, weder Vorher noch Nachher. Eine absolut genommene (vom Subjekt ganz absehende) mechanische Betrachtung hebt sich in ihrer immanenten Logik selbst auf.“ (S. 140 f.)

Im 20. Jahrhundert hat Karl Popper die paradoxe Erkenntnisstruktur des Scientismus wieder aufgelegt.  In seinem Buch Objektive Erkenntnis schreibt er:  „Nach dem Determinismus glaubt jemand an Theorien — etwa an den Determinismus — wegen einer bestimmten physikalischen Struktur etwa seines Gehirns. Wir täuschen uns also (und sind dazu physikalisch vorherbestimmt), wenn wir glauben, es gäbe so etwas wie Argumente oder Gründe, die uns an den Determinismus glauben machen. Oder mit anderen Worten, der physikalische Determinismus ist eine Theorie, über die man, wenn sie wahr ist, nicht argumentieren kann, denn sie führt alle unsere Reaktionen, auch das, was uns als auf Argumente gegründete Überzeugung erscheint, auf rein physikalische Bedingungen zurück. Rein physikalische Bedingungen, zu denen unsere physikalische Umgebung gehört, veranlassen uns, zu sagen oder zu akzeptieren, was wir sagen oder akzeptieren; und ein fähiger Physiker, der kein Französisch kann und nie etwas vom Determinismus gehört hat, könnte voraussagen, was ein französischer Determinist auf Französisch in einer Diskussion über den Determinismus sagen würde, und natürlich auch, was sein interdeterministischer Gegner sagen würde. Doch das bedeutet: wenn wir glauben, wir hätten eine Theorie wie den Determinismus wegen der logischen Kraft bestimmter Argumente angenommen, dann täuschen wir uns nach der Behauptung des physikalischen Determinismus; oder genauer: wir befinden uns in einem physikalischen Zustand, der uns dazu bestimmt, uns zu täuschen.“ (Karl Popper, Objective Knowledge, Oxford 1972. Zitiert nach der dt. Übersetzung: Objektive Erkenntnis, Hamburg 1973, S. 249)

Der jüngste in der hier zusammengestellten Reihe ist Markus Gabriel. Er schildert in seinem Buch Warum es die Welt nicht gibt zunächst so etwas wie die Standardvorstellung der Wahrnehmung. Nach dieser führen Nervenreizungen zu Informationen, die uns bzw. genau genommen nur unserem Hirn zugetragen werden. „Stellen wir uns nun vor, wir sehen einen Apfel in der Obstschale. In diesem Fall treffen sogenannte Photonen, also elektromagnetische Strahlen, auf unsere Augen. Diese Strahlung wird in elektrische Impulse übersetzt, die irgendwo in unserem Gehirn ein visuelles Bild erzeugen. Obwohl unter unserer Schädeldecke alles völlig dunkel ist, produzieren die elektrischen Impulse Reize, die wir im visuellen Kortex als Bild wahrnehmen. Solche Bilder nennen Philosophen ‚mentale Repräsentationen’. Was wir eigentlich sehen, soll deswegen auch nicht der Apfel in der Obstschale, sondern eine mentale Repräsentation sein. (...) Wir sehen demnach eigentlich keinen Apfel in einer Obstschale, sondern sitzen im Dunkel unserer Schädeldecke, wo durch elektrische Impulse ein Weltfilm oder ein Welttheater entsteht, das wir uns ansehen. Dieser Weltfilm hilft uns dabei, uns in der Außenwelt zu orientieren, die in Wahrheit nur aus farblosen Elementarteilchen und aus demjenigen besteht, was sich auf einer höheren makroskopischen Ebene aus ihnen zusammensetzt.“

Könnten wir jetzt sozusagen mit objektiven Augen eines allwissenden und alles überblickenden Wesens das „eigentliche“ Geschehen wahrnehmen, so sähe dieses ganz anders aus als das, was wir in unserem zerebralen Weltfilmkino vorgeführt bekommen: „Wir sähen etwa lediglich zitternde Elementarteilchen, wo wir zuvor einen Apfel wahrnahmen. Doch damit nicht genug, wir sähen weder einen Apfel noch unseren Leib mit seiner Schädeldecke. Insbesondere könnten wir auch die mentale Repräsentation, das visuelle Bild, nicht mehr erkennen. Dieses Bild soll deswegen (...) eine Art Illusion sein, die unsere Gehirne oder vielmehr die fundamentalen Elementarteilchen erzeugen. Denn unsere Gehirne sind ja ebenfalls nur Elemente in unserem Film.“

Wenn ein Wissenschaftler so weit gegangen ist, das zu akzeptieren, dann erodieren ganze Sektoren der angeblichen Wirklichkeit. So stellt sich plötzlich die Frage, ob es solche Entitäten wie Gehirne gibt. Nicht einmal die angeblichen Erkenntnisse der Sinnesphysiologie sind von Illusionen zu unterscheiden. Denn von Gehirnen oder Sinnen und Erkenntnissen über diese wissen wir ja auch nur deshalb etwas, weil sie uns auf sinnlichem Wege zugänglich gemacht wurden – und dieser Weg ist angeblich nicht mehr zuverlässig, könnte eine Vorspiegelung neuronaler Prozesse sein: „Wenn alle Elemente, die auf unserem Bewusstseinsschirm auftauchen, Illusionen sind, dann ist auch das Gehirn und mit ihm das Bewusstsein nur eine Illusion. Wenn die Welt oder die Außenwelt nur eine Konstruktion aus Sinnesdaten ist, ist auch diese These nur eine Konstruktion aus Sinnesdaten. Alles verschwindet im Abgrund eines riesigen (illusionären) Mahlstroms. Nicht nur erkennen wir in diesem Szenario nicht die Dinge an sich, sondern alles, was wir überhaupt erkennen, ist eine Illusion. Dem mentalen Repräsentationalismus zufolge gibt es also weder Gehirne noch mentale Repräsentationen. Alle diese Gegenstände stellen sich als bloße Illusionen heraus.“ (Alle Zitate aus: Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt. Berlin 2013, 5°, S. 150 ff.)


Seit mehr als 200 Jahren wiederholen Philosophen unterschiedlichster Couleur den im Kern immer gleichen Einwand gegen ein rein kausal aufgefasstes Wirklichkeitsverständnis. Seit dieser Zeit weisen sie darauf hin, dass ein rein kausales Wirklichkeitsverständnis jede Erkenntnis untergräbt. Seit dieser Zeit ist ihr Argument allerdings an den Ohren der vielen Naturwissenschaftler, die sich dem Kausalmodell mit Haut und Haar verschrieben haben, vorbeigerauscht. Unbeirrt ob der pikanten Schlussfolgerungen solcher Giganten der Geistesgeschichte wie Hegel und Schelling, eines solchen profunden Analytikers des Wissenschaftsprozesses wie Karl Popper, eines der seriösesten christlichen Philosophen wie Robert Spaemann und des jüngsten Philosophieprofessors Deutschlands wie Markus Gabriel halten sie an ihrem paradoxen Begriff von Erkenntnis fest, der sich selber ad absurdum führt. Dies läuft schon auf eine pathologische Art von Gesprächsverweigerung hinaus. Und es verheißt nichts Gutes. In einer Zeit, in der der Deutungsanspruch kausalitätsfixierter Wissenschaftler tatsächlich beim Denken und Fühlen des Menschen angekommen ist, geht es nicht mehr nur um eine rein theoretische Frage, sondern um eine folgenreiche Festschreibung des Menschenbildes.


Müsste man dagegen nicht eine Welle des Protestes organisieren? Und zwar so laut, dass auch der hartnäckigste Naturalist sich irgendwann wenigstens gestört fühlt?

© Gottfried Böhme