Der Fries


Man stelle sich einen unendlich langen Fries vor, an dem ein Wesen auf einem Fahrzeug vorbeigleitet. Der Fries wie auch das Fahrzeug und überhaupt alles ist völlig verdunkelt. Auf ihm, wäre er erleuchtet, wäre alles zu sehen, was sich Zug um Zug in unserem Kosmos entwickelt hat, wirklich jeder kleinste Schritt in feinster Weise, wobei jeweils Schritt für Schritt der komplette Weltzustand abgebildet ist. Die Abbildungen auf dem Fries sind also isomorph mit der Naturgeschichte. Das Schwebewesen hat eine starke Taschenlampe, die in der Lage ist, jeweils ein Bild dieses Frieses auszuleuchten. Leider ist diese Lampe starr auf dem Fahrzeug montiert, kann also keinesfalls nach links oder rechts geschwenkt werden. So sieht das Wesen jeweils nur für einen kurzen Moment ein kleines Segment des bunten Panoramas aufleuchten, davor ist finsteres Dunkel, dahinter auch. Ständig entsteht eine bunte Wirklichkeit und vergeht gleich darauf wieder. Die Frage ist nun: Wie soll das Wesen, das von dem ganzen Arrangement natürlich nichts weiß, herausbekommen, ob die Wirklichkeit sich jeweils nur auf diesen (Zeit-) Ausschnitt beschränkt? Ob die Dinge tatsächlich erst aus dem Nichts entstehen und nicht längst in einer „größeren“, diese Gegenwart transzendierenden Wirklichkeit zumindest angelegt sind? Muss es nicht annehmen, dass es die Entstehung der Wirklichkeit beobachtet? Aber die Wirklichkeit ist längst da, muss gar nicht erst entstehen: bloß wird sie von dem Wesen – abgesehen von einer einzigen Episode – nicht angeleuchtet.

© Gottfried Böhme